Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Tag ist oder Nacht.
Der Kiosk, die Tabak-Trafik, wo ich, vor Angst fast gelähmt, diesem Kerl in die Hände fiel, ist trübe erleuchtet heute Abend. Ich presse die Nase an die von innen beschlagenen Scheiben, kann nichts erkennen. Ob sie heute auch so unerbittlich geheizt hat wie an dem Regentag, die Hanna?
Ich öffne die Tür.
Aber da sitzt keine Frau im dunklen Kleid oder grauer Jacke, sondern ein kleiner Junge, dem der Tresen gerade bis zur Brust reicht. Vielleicht ein Enkel? Er trägt eine Ballonmütze auf dem Kopf und hat eine Brille mit so starken Gläsern auf der Nase, dass er mich an Danny Goldstein erinnert.
»Schalom!«, grüße ich, »Frieden!«, wie ich es bei meinem ersten Besuch hier zum »Grüß Gott« noch dazugelernt habe – es gefällt mir auch viel besser! –, und der Kleine nickt, während ihm die Röte in die Wangen schießt. Vielleicht war er in seiner Aushilfsposition nicht auf Kundschaft vorbereitet.
»Ist deine Großmutter nicht da?«, versuche ich es, und als er mich anstarrt, als käme ich vom Mond, grabe ich in meinem Kopf nach, ob Schlomo jemals das jiddische Wort für Großmutter erwähnt hat, und dann sage ich vorsichtig: »Deine bobe?«
Er glotzt weiter.
»Na, die Frau, die hier arbeitet! Hanna!«
Nun schüttelt er den Kopf. »Das ist die Trafik von mein Sejde!«, sagt er mit piepsiger Kinderstimme. (Seij de, erinnere ich mich, ist der Großvater.) »Wos schaffen S’? Journal? Presse?« Er will mir was verkaufen.
»Nichts«, sage ich. »Ich komm später noch mal vorbei.«
Also gehe ich weiter in dies merkwürdige Viertel hinein, das im Schein der Gaslaternen noch fremdartiger und seltsamer wirkt.
Wo ist diese Gasse, die Negerlegasse, von der ich geträumt habe? Wo die Stimme vom Golem erzählt hat? Ich kann mich nicht erinnern. Hätte den Jungen im Kiosk danach fragen können, aber umkehren will ich auch nicht. So schlendere ich auf gut Glück einfach weiter. Irgendwo werde ich sie schon entdecken.
Plötzlich bin ich vor der Rolandbühne. Ein großes Schild an der Tür: »Heute keine Vorstellung«.
Es ist eigenartig, aber irgendwie komme ich mir vor, als sei ich schuld an dem, was da vorgestern passiert ist. Als hätte ich sie angezogen, diese weiß-grüne Armbinden und die Feldmützen mit dem Federbusch, als wenn sie Jäger wären. Jäger waren sie ja auch. Die Heimwehr.
Im Dunkeln ist alles anders.
Das Licht der Laternen flackert. Gestalten tauchen aus den Seiten gassen auf, drücken sich an den Wänden entlang: junge Frauen mit zerzaust aussehenden Federboas um die Schultern; ihr billiger Schmuck glitzert, und wenn sie direkt im Lichtkreis einer Laterne stehen, sieht man, wie sie geschminkt sind: die Augen fett schwarz umrandet, rot gemalte Wangen, die Münder wie blutige Wunden im Gesicht. Männer im Kaftan, streng religiöse Juden, eilen an ihnen vorbei und sehen geflissentlich in die andere Richtung.
Hier und da schlägt eine Schwingtür von einem der vielenKaffeehäuser auf, Licht und Geschrei und lautes ungezwungenes Lachen dringen wie ein Schwall heraus auf die Straße. Die Gehwege füllen sich, als habe man auf einmal alles, was Beine hat, hinausgeschickt. Zittrig flackern Leuchtreklamen auf, weisen auf die Theater hin. Die Mazzesinsel erwacht zu nächtlichem Leben.
Jemand pfeift mir hinterher, wer anders ruft: »Kumm, Schoinhait! Kumm, Mufertke!« Ich denke, das zweite wird nicht unbedingt ein Kompliment sein.
Wohin soll ich mich jetzt wenden? Ich finde mich nicht mehr zurecht. Stehe da und weiß nicht, ob vor, ob zurück. Komme mir fremd vor, fühle mich wie jemand, der heimlich durch ein Fenster späht.
Was ist das eigentlich für ein Unsinn, hier nachts herzukommen, bloß weil man so einen Traum hatte ...?
Etwas streift mein Bein. Ich schreie unterdrückt auf und sehe nach unten. Eine Katze! Leonie, nimm dich zusammen!
Aber dies ist wohl nicht mein Abend.
Ich sollte umkehren und meine Suche aufgeben.
Aber genau in dem Moment sehe ich das dunkel angelaufene Straßenschild. Negerlegasse. Wie konnte ich sie bloß übersehen? Sie zweigt doch ganz eindeutig von der Taborstraße ab. Gegenüber ist die Produktenbörse, diese Markthalle.
Sie ist dunkel, die Gasse. Dunkel und schmal. Ich stehe da und zögere hineinzugehen, spähe mit gerecktem Hals, ob ich schon von hier diese hölzerne Tür ausmachen kann, vor der ich gestanden habe, als ich den Gesang und die Stimme hörte. Mir ist bänglich zumute. Nicht dass die Häuser wirklich auf mich zustürzen
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