Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Vorhang.
Da drüben. Das ist das Bergmassiv, wohin sie gestern Abend gefahren sind. Jetzt ragt es als schwarzer Umriss vor dem Morgenlicht auf. Und da unten im Hof, im Schlosshof, da steht Gastons großes Auto. Die Klappe des Kofferraums ist geöffnet, der Bratspieß, die irdenen Töpfe, in denen Öl und Fleisch waren, das Grammofon sind noch nicht ausgeladen.
Sie atmet tief durch. Die Bilder der Nacht kehren alle zurück. Jetzt tritt der alte Mann aus dem Haus, macht sich am Wagen zuschaffen. Was war das Letzte, woran sie sich erinnert: »Die Laskers sind alter jüdischer Adel!«, hatte er behauptet.
Plötzlich denkt sie an den Abschied vom Vater. Auf dem Bahnhof hatte er gesagt: »Lass dir von denen keinen Floh ins Ohr setzen!«
Damals hatte sie nicht verstanden, was er gemeint hatte ...
Floh im Ohr? Aber das ist doch nun wirklich nichts weiter als nur eine absurde Behauptung.
Jüdisch? Das ist Unsinn!
Sie lässt den Musselinvorhang los und läuft ins Bad. Vor dem Spiegel bleibt sie stehen und streicht sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht. Ihre Haare sind dunkel, glänzend und lockig. Ihr Gesicht ist schmal, mit den hohen Wangenknochen, und ihre Augen sind schwarz und leuchtend. Im Sommer wird sie schnell braun. So wie ihr Vater. So wie Isabelle.
So sehen viele aus. Südländisch eben. Aber jüdisch?
Auf einmal fällt ihr die Geschichte im Kaufhaus Wertheim ein. »Spezielle Kundinnen ...« Da hat man sie ja offenbar auch für ein jüdisches Mädchen gehalten.
Sie hat sich nie darüber Gedanken gemacht, wie man aussieht, wenn man jüdisch ist. Sie erinnert sich nur an Zeitungsbilder, Karikaturen in bestimmten Zeitungen. Da haben die Juden krumme Nasen und dicke Lippen und fuchteln komisch mit den Händen herum und die Frauen sind fett und tragen Pelze und haben Ringe an den Fingern.
Ihr Vater hat nie etwas Derartiges erwähnt ... dass sie jüdisch sein sollen. Im Gegenteil. Er redet immer nur abfällig von den »Jidden« im Scheunenviertel, da in Berlin hinter dem Alexanderplatz. (Leonie war ein einziges Mal dort.) Wie nennt er sie doch gleich wieder: Schacherer und Altkleiderhändler. Und: Schmarotzer am deutschen Volkskörper ...
Also, man kann nur hoffen, dass die beiden »Verwandten« für das alles eine Erklärung bereithalten ...
Mit einem tiefen Seufzer wendet sich Leonie vom Spiegel ab. Da ist diese Wanne auf den Löwenfüßen und mit den bronzenen Wasserhähnen. Man kann einfach aufdrehen, es kommt heißes Wasser,und man kann baden! Bei ihr zu Hause, in der kleinen Wohnung im Seitenfl ügel in Neukölln, gibt es kein Bad. Einmal in der Woche geht Leonie ins Stadtbad und steigt dort in die Wanne – in der Holzmarktstraße, in der alten Wohnung musste man immer den Kohlenofen anheizen, einmal die Woche, um zu baden. Aber dies hier: Das ist einfach Luxus. Am liebsten möchte sie zweimal am Tag in das warme Wasser gehen.
Also dreht sie die Hähne auf, mischt Heiß und Kalt und gleitet dann mit einem wohligen Seufzer in die Wanne. Gestern wollte sie fort. Aber warum eigentlich? Warum sollte sie hier weg, wo es ihr so gut geht?
Ihr kommen die beiden Tage in den Sinn, die sie hier verbracht hat. Es war doch wunderschön! Ihr war es so angenehm, dass sie niemand zu etwas gedrängt hat bisher.
Dieses Paar, Isabelle und Gaston, lassen ihr völlig freie Hand, sie kann tun und lassen, was sie will. Zuerst hat sie sich aus Schüchternheit nichts getraut – alles war so ungeheuer anders! Dann hat sie erst einmal dieses Schloss erkundet, die weite Eingangshalle mit der großen, sanft geschwungenen Treppe, das Speisezimmer mit der Mahagonianrichte und dem polierten Esstisch, den Salon, lichtdurchfl utet, helle Teppiche am Boden, grüne Fenstervorhänge, Rattan möbel. Die Bilder, die an den Wänden hängen, Porträts, haben aber nichts mit Isabelle oder Gaston zu tun, das sind alles handfeste, rotgesichtige, bäurische Erscheinungen, die Männer hoch zu Ross, die Damen mit unwahrscheinlich eng geschnürten Taillen. Mehr als die Bilder selbst beeindrucken Leonie eigentlich die geschnitzten und vergoldeten Rahmen. Es gibt eine Bibliothek, wo hinter Glas alle französischen Klassiker stehen, die sie kennt und die sie nicht kennt – und auch deutsche Autoren, Heine, Goethe, ihr geliebter Schiller. (Sie hätte ihre Ausgabe der Stücke gar nicht mitbringen müssen.) In der oberen Etage des Hauses geht’s dann nicht weiter. Eine verschlossene Tür verwehrt ihr den Zutritt zu den Räumen des alten
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