Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
beiden nicken.
»Lass uns in Isabelles Boudoir gehen«, schlägt Gaston vor. »Dort ist man ganz für sich und niemand hört einem zu.«
Das alte Paar verlässt den Raum und Leonie geht hinter ihnen her, folgt ihnen.
Die beiden gehen Hand in Hand. Sie sind ziemlich genau gleich groß, sind gleich zierlich mit schmalen Schultern und schmalen Hüften. Gaston trägt einen schwarzen Anzug, wie immer, Isabelle ein dunkles, eng anliegendes Kleid mit einem weißen Kragen. Ihre lockigen Haare, in denen sich Schwarz und Grau zu einer Farbe mischen (wie angelaufenes Silber, denkt Leonie), sind zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden. Sie durchqueren die Eingangshalle und kommen zu einer Wendeltreppe, die ihr vorher noch gar nicht aufgefallen ist.
Es geht in den Turm, den sie bisher nur von außen angesehen hat! Stufe für Stufe steigen die beiden vor Leonie hoch, mit einem gleichmäßigen leichten Gang; sie müssen nicht anhalten und pausieren, müssen nicht nach Luft schnappen. Steigen stetig nach oben.
Dann ist sie drinnen. Und ihr stockt der Atem.
3
In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gesehen.
Vor allem: Ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll, nach drinnen oder nach draußen. Denn dieses Turmzimmer hat vier Fenster, nach jeder Himmelsrichtung eines, und die blendende Helle des südlichen Morgens bringt mich zum Blinzeln. Mir ist so, als könnte ich die ganze Welt sehen: das Meer dahinten, die steilen Gipfel der Pyrenäen dort drüben, hier die sanft ansteigenden Weinberge und die Olivengärten, da weiter unten die Häuser der Ortschaft, der Viadukt, über den mich die Eisenbahn hierhergetragen hat ... Ich kann nicht anders. Ich muss die Hände vor die Augen legen. Es ist zu viel. Es überwältigt mich.
Dann höre ich Gaston leise lachen. Ein paar Worte zwischen den beiden. Ein sanftes Rauschen. Als ich die Hände sinken lasse, verhindern leichte Leinenvorhänge, dass ich mich ganz in den Anblick dieser Landschaft verliere.
Nun ist es nur das Zimmer, das um mich ist. Ein Zimmer voller Wunderdinge.
In diesem Raum gibt es kein einziges Stückchen freie Wand, kein noch so kleiner Fleck zwischen Tür und Fenstern, der nicht bedeckt ist von bunten und schimmernden Dingen.
Auf dem Fußboden liegen dicke Teppiche übereinander, die Muster, in Wiesengrün und Purpurrot und Pfauenblau, sind miteinander verschlungen wie die Pfade eines Labyrinths, und ich getraue mich kaum, mich zu bewegen.
»Soll ich – die Schuhe ausziehen?«, frage ich, und es klingt schüchtern.
»Wenn du möchtest.«
Ja. Ich möchte. Ich streife die Spangenschuhe ab. Meine Füße versinken in dem weichen Flor.
Und nun sehe ich mich genauer um. Bis zur Decke hoch sind die Wände bedeckt mit Zeichnungen, elfenbeinfarbenen oder bräun lich schimmernden Blättern, Hunderte, so dicht aneinander aufgereiht, dass es wirkt wie eine Tapete. Da sind bunte Darstellungen auf diesen Blättern: Rosetten und hohe Portale wie Stadttore, und dazwischen Blumen, Vögel, Hirsche, Zicklein, Fische, Fabelwesen, Männer mit so etwas wie Jagdhörnern, Leute in der Kleidung vergangener Zeiten bei irgendwelchen Verrichtungen – winzig kleine Szenen, in Gold und in den leuchtenden Farben der Teppiche, und alles das ordnet sich immer um große, dicke Schriftzeichen. Schwarze und rote eckige, klobige Buchstaben. Ich kenne solche Buchstaben, ich habe sie in dem anrüchigen Scheunenviertel in Berlin gesehen. Da sind sie an vielen Läden. Es ist die hebräische Schrift. Die jüdische Schrift.
Dazwischen Regale mit Gegenständen, die mir noch fremdartiger vorkommen. Vielarmige Kerzenständer aus Silber, aber auch einzelne hohe Kerzenhalter, metallene durchbrochene Büchsen, die aussehen wie aus einer anderen Welt, auf Ständern wie kleine Türme, und sie sind bestimmt aus echtem Gold. Getriebene Becher, umrankt von kunstvollen, geschmiedeten Girlanden. Ein großes gebogenes Tierhorn, wie das bei den Männern auf den Bildern, schwarze Kapseln an Lederriemen, kleine Schreine, verziert mit bunten Steinen, bestickte Samtgewebe.
Ich fühle mich beklommen. Was ist das alles? Hat Isabelle hier ein Museum eingerichtet? Gaston sagte: Boudoir. Aber da runter versteht man doch ein Damenzimmer, nicht so etwas hier.
Ringsum, die Wände entlang, liegen Polster und Kissen aufgereiht, geschmückt mit bunten Troddeln an den Ecken, und dann ist da noch ein einziges gewaltiges Möbelstück, ein geschnitzter Stuhl mit einer Art Krone an der Rückenlehne und
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