Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Isabelle. »Es war die Zeit, als die Mauren, die damals im Süden des Landes regierten, von der spanischen Königin erst besiegt und dann verjagt wurden wie räudige Hunde. Und alle Juden schickte sie gleich hinterher.«
»Alle?«
»Alle, chérie.«
»Was hatten sie denn verbrochen?«
»Es waren keine Christen, das genügte.«
»Aber das ist doch ...«
»Una sañosa porfía«, sagt Isabelle und summt eine Melodie an, und wieder überläuft Leonie so ein kleiner Schauder. »Das ist auch eins von den Liedern, die mein Vater manchmal in der Küche summt. Er sagt, die Melodien stammen von seinem Großvater, und der wusste wohl nicht, woher sie kommen, irgendein Unsinn.« Sie starrt die alte Frau mit offenem Mund an.
»Das ist kein Unsinn, und die Worte ›Una sañosa porfía‹ bedeuten ›Erbitterter Eifer‹. Mit erbittertem Eifer hat man uns vertrieben. Ein Lied aus der Zeit der Verfolgung. Die Sprache ist Ladino.«
»Ladino?«
»Ja, Leonie. Das hebräische Spanisch aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das die Sepharden noch immer sprechen können neben den jeweiligen Landessprachen. Die Aschkenasim hingegen sprechen Jiddisch.«
Leonie spürt, dass ihr gleichzeitig heiß und kalt wird. »Aber das würde ja bedeuten ... mein Vater ... « Es hält sie nicht mehr auf ihrem Polster, sie springt auf. »Mein Vater ist ein Jude und weiß es nicht?«
»Er will es nicht wissen«, korrigiert Gaston ruhig. »Hast du gedacht, wir haben dir gestern irgendwelchen Nonsens vorgemacht? Isabelle ist deine Ahnfrau und sie ist eine Lasker. Ihr seid Juden.«
»Juden«, wiederholt Leonie leise. In ihrer Stimme ist eine tiefe Verwunderung.
»Das andere Lied, das aus dem Grammofon gestern – von dem ich die Melodie ebenfalls gekannt habe –, es ist auch ein jüdisches Lied, ein Lied ... mit einem Text in Ladino?«
»Ja, natürlich«, sagt Isabelle. Sie singt halblaut, mit einer klaren, tiefen, gar nicht greisenhaften Stimme: »›Avram avinu, padre querido, padre bendicho, luz de Israel.‹ Das heißt: ›Abraham unser Vater, geliebter Vater, gesegneter Vater, Licht von Israel.‹ Es ist ein religiöses Lied.«
»Aber ... aber es ist lustig! Ihr habt dazu getanzt!«
»Warum soll ein religiöses Lied traurig sein? Warum soll man nicht tanzen dazu? In Deutschland ist immer alles feierlich verdrossen, heißt es!«
Leonie hebt die Hände an die Schläfen. »Was wollt ihr von mir?«, sagt sie leise. »Warum bin ich hier? Und was ist das für ein ... Kabinett, in dem wir hier sind? Isabelles Boudoir! Das kommt mir irgendwie vor wie ein Museum – oder eine Hexenküche! Mir reicht es erst einmal.«
Sie tritt an eins der Fenster und reißt den Leinenvorhang beiseite. Sie hat die Nordseite erwischt, den Blick auf das dunkle, zerklüftete Pyrenäengebirge. Irgendwo da oben war sie gestern Nacht.
»Ich brauch eine Pause.«
Sie dreht sich um und will sich auf den Stuhl fallen lassen, diesen einzigen wunderschönen Stuhl im Raum (vom Hocken auf dem Polster tun ihr die Beine weh), aber ein gemeinsamer Aufschrei des alten Paars hindert sie daran.
»Nein! Nicht! Das ist der Stuhl des Elias!«
»Was für ein Elias?«
»Der Prophet Elias! Am Pessachfest kann es sein, dass er erscheint, uns zu erlösen. Darum steht für ihn immer ein Stuhl bereit.«
Leonie sieht von einem zum anderen. Dann sagt sie: »Entschuldigt. Ich will euch nicht kränken. Ich glaube, ihr seid ein bisschen verrückt.«
4
In meinem Zimmer angekommen, greife ich mir meinen Strohhut. Nichts wie raus ins Freie!
Ich renne die Treppen hinunter, trete auf den Schlosshof, gehe durch das Gittertor hinaus und dann gleich den steinigen, staubigen Pfad hoch, der steil bergan in die Olivenhaine führt.
Alles könnte so schön sein. Ich könnte es einfach genießen. Die wunderbare Landschaft, das Schloss, der Ort mit dem Viadukt, all die Aufmerksamkeiten, mit denen man mich umgibt, die verzauber te Nacht von gestern, all das Fremde, das Ungewohnte, das Merk würdige.
Aber hier will man etwas von mir. Das Zauberstück da oben auf dem Berg, das Reden über diese ... Kabbala, das war der Anfang davon, mich zu umgarnen.
Isabelle und Gaston sind die Regisseure. Noch bin ich das Publikum. Aber wie es aussieht, soll ich irgendwann bei irgendetwas mitwirken. Und das schafft mir Unbehagen. Denn mir fallen nur ganz absurde Dinge ein: Soll ich hier so etwas wie ein Zauberlehrling werden, wie der in Goethes Ballade, oder irgendwie zum Judentum übertreten? Das kann doch nicht wahr
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