Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
vertagen – um ein paar Jahrhunderte. Aber Direktorin Sommer greift zum Mikrofon. Sie wirkt etwas unsicher.
»Wollt ihr etwas singen?«
Im Gegensatz zu den Eltern kennen die Kinder diese Frage aus ihren Krippen, Horten und Kitas nur zu gut. Sie wissen, dass es darauf nur eine Antwort gibt: »Jaaaa!«
Die Gesichter der Eltern rufen das Gegenteil.
»Wenn alle zusammen singen, dann kommt gleich Freude auf«, verkündet Frau Sommer wie aus einem Wandervögelleitfaden. »Erst mal sind die Eltern dran: Jeder stimmt ein lustiges Lied an, das er noch aus der Kindheit kennt, und die anderen singen mit.«
Jetzt reicht’s. Ich mache mich hier nicht länger zum Affen. Leonie sitzt auf Annes Schoß und schaut gebannt nach vorn. Herr Fröhlich diskutiert leise mit seiner Frau, und die anderen sind eh mit sich beschäftigt: Zeit zu gehen.
Kaum bin ich aufgestanden, höre ich Frau Sommers Stimme durch die Boxen: »Da haben wir ja schon den ersten Freiwilligen: Herrn Hartmann! Brauchen Sie ein Mikrofon?«
Auf einmal stehe ich im Mittelpunkt. Vehement schüttele ich den Kopf und strecke abwehrend die Hände aus. »Nein danke, ich wollte nur schnell mal raus!«
Ein enttäuschtes »Oooh!« läuft durch die Reihen der Mütter und Väter. Aber ich werde hier auf keinen Fall ein Lied zum Besten geben. Mich plagt ein Vorsingtrauma, seit mein Stimmbruch vor zwanzig Jahren ausgerechnet im Sommerkonzert des Schulchors einsetzte.
Die Eltern, die nah an meinem Weg zur Tür sitzen, rücken jetzt in meinen Notausgang und versperren mir den letzten Ausweg.
»Das gibt Extrapunkte«, zischt mir Frau Sommer zu. Offenbar wird der Bubsiwettbewerb hier als Standarddrohung missbraucht. Muss ich mir merken, wenn Anne mich das nächste Mal aufs Sofa verbannt.
Ich suche ihren Blick, damit sie mir zur Hilfe eilt und den ersten Gesangspart übernimmt. Mütter können so etwas ja immer. Stattdessen nickt mir Anne aufmunternd zu, und Leonie plinkert mit ihren großen Augen.
»Bitte, Papa«, sagt sie mitten in die Stille.
Mit einer langen Geste, die ich mir wahrscheinlich in einem vorherigen Leben bei Julio Iglesias abgeschaut habe, deute ich durch den ganzen Raum und ende auf der Kleinen. Dazu säusele ich: »Das Lied ist für dich, meine Tochter …«
Leider ist mir auch am Ende der langen Geste noch immer kein Lied eingefallen: nur ein paar Charthits aus meiner Jugend und »Schlaf, Kindlein, schlaf«. Aber wenn ich hier weiter tatenlos herumstehe, sind die eh alle eingeschlafen. Hauptsache, im Lied kommt das Wort »Kind« vor oder »Kleines« oder so. Ich öffne einfach mal den Mund und schaue, was rauskommt.
»Come, baby, come, baby, baby, come, come!«
Erstaunte Blicke mustern mich. Ein paar Väter grinsen, ein Teenager mit Baggypants tut so, als würde er sich den Finger in den Hals stecken, aber davon lasse ich mich nicht entmutigen.
»Well, you gotta gimme lovin’ and you gotta gimme some«, rappe ich weiter.
»Das ist doch lächerlich«, ruft Herr Fröhlich. Von wegen. Der hat doch überhaupt keine Ahnung von Hip-Hop. Der Refrain ist schon mal ganz gut angekommen, wie beginnt der Song noch mal? Genau!
»Bounce, come on, bounce«, fordere ich die Leute zum Springen auf. Leonie steht aus dem Schoß ihrer Mutter auf und hüpft. Obi macht es ihr nach.
Jetzt steht sogar Herr Fröhlich auf. Die Adern an seinen Schläfen treten deutlich hervor. »Das ist doch totaler Mist!«
Ich stutze. Wie bitte? Mist? Das war der Sommerhit des Jahres 1993!
Mein Widersacher baut sich direkt vor Leonie auf und beginnt mit fester Baritonstimme zu singen: »Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserem Haus herum, fidibum.«
So nicht, mein Lieber. Jetzt bin ich an der Reihe, auch wenn ich mich nicht darum gerissen habe.
Ich habe diesen Auftritt als Rapper angefangen, ich werde diesen Auftritt als Rapper zu Ende bringen.
»Willst du Beef mit mir?«
Er grinst. »Beef? Zum Abendessen vielleicht.«
Keiner lacht. Schon gar nicht ich. Am liebsten würde ich Herrn Fröhlich mit Schimpfwörtern überschütten, die altgediente serbische Freischärler zum Weinen bringen, aber dann wäre ich ein schlechter Vater. Muss in meiner Rolle bleiben und trotzdem Rapper sein. Schwierige Aufgabe.
»Dummkopf«, zische ich ihm leise zu. Das wird ja wohl noch erlaubt sein. Herr Fröhlich schaut erschrocken.
»Blödi«, kontert er und blickt gleich ängstlich in die Runde. Ein paar Kinder kichern. Seine Frau nickt ihm auffordernd zu.
»Doofi«, entgegne
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