Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
greife ich den Empfangstresen und ziehe mich hoch. Kaum habe ich mich aufgerichtet, höre ich direkt hinter meinem Kopf ein Glucksen und dann Leonies Stimme: »Bin groß geworden.«
Anne lacht erleichtert. Mir ist allerdings nicht nach Lachen zumute, denn ich habe das Gefühl, mir hämmert jemand kleine Nägel in die Wirbelsäule. Wahrscheinlich Leonie. Aber lieber schleppe ich im Alleingang meine Alibitochter im Rucksack über die Berge, anstatt sie hier den ganzen Tag mit Mr. Perfect zu teilen. Job ist Job.
Wir lassen uns von Jeannie erklären, wo wir den »Familienwanderweg zur Marendalm« finden.
Die Sonne strahlt, als wir das Hotel verlassen, der blaue Himmel lässt mich kurz das Gewicht vergessen, das auf meinen Schultern lastet.
Doch schon an der ersten Kreuzung scheiden sich die Geister. Anne glaubt, zur Marendalm müsse man die kleine Asphaltstraße nehmen, die links neben dem herrlich steinigen Bergweg in die Natur gefräst wurde.
»Wir stimmen ab«, schlägt sie vor. Ohne meine Reaktion abzuwarten, zeigt sie mit dem Finger auf Leonie, dann auf sich und zählt: »Eins, zwei für links.« Dann deutet sie auf mich: »Leider nur eine Stimme für rechts. Keiner sonst?« Anne dreht sich suchend um, zuckt mit den Schultern und begibt sich nach links auf den Asphaltweg.
Moment einmal, wir sind hier nicht im italienischen Parlament.
»Du weißt doch gar nicht, wofür Leonie stimmt. Sie zieht die ganze Zeit an meinem rechten Ohr, also will sie nach rechts gehen.«
Anne bleibt stehen. »Ich bin ihre Mutter.«
»Und ich bin ihr Vater.«
»Bist du nicht. Links ist richtig, hat Jeannie gesagt.«
»Später ist links richtig. Erst mal müssen wir auf einen Wanderweg kommen. Dein Weg sieht eher so aus, als führte er direkt auf die Autobahn.«
»Na gut, wenn du dir so sicher bist. Aber wehe, wir verlaufen uns!«
»Ist es eigentlich üblich, dass man sich in einer Beziehung ständig bedroht?«
»In unserer schon.«
Anne schimpft noch etwas weiter, aber das höre ich zum Glück nicht mehr, denn Leonie hat mir ihre kleinen Finger bis zum zweiten Knöchel in die Ohren gesteckt.
Schweigend gehen wir die nächsten hundert Meter bergauf. Leonie scheint den Ausflug zu genießen, entstöpselt meine Ohren, deutet auf alles, was sie sieht, und plappert munter drauflos. Sie entdeckt einen »Taktor«, dann: »Oh, eine Kuh!« Ich versuche Leonie mal wieder dazu zu bringen, mich Papa zu nennen – jetzt wo wir uns auch körperlich so nah sind. Wenigstens, um Mr. Perfect zu ärgern. Aber sie weigert sich. Leider habe ich die Gummimannles im Hotel vergessen.
Also starre ich weiter mit gebeugtem Rücken auf meine Füße, die sich Schritt um Schritt nach oben kämpfen. Ich muss mich auf regelmäßiges Atmen konzentrieren. Anne marschiert straff vorneweg.
»Na, wer ist jetzt das wilde Mannle?«, foppt sie mich. Das muss ich mir nicht bieten lassen. Ich mobilisiere alle meine Kräfte. Auf der ersten Anhöhe habe ich sie eingeholt. Blöderweise endet der Weg hier in einer Wiese.
»Wir können ja einen Eingeborenen fragen«, schlage ich vor. Leider ist weit und breit kein Mensch zu sehen – nicht mal Eltern mit Kindern. Die trifft man ja sonst überall. Anne deutet den Weg hinunter, den wir uns gerade mühevoll hochgekämpft haben.
»Unten war ein Wegweiser. Lass uns noch mal zurückgehen.«
Ich nicke schweigend und beschließe, ihr von nun an einfach hinterherzulaufen. Anne deutet zum Horizont. Am Rand des blauen Himmels ziehen ein paar Wölkchen auf.
»Wir können auch gleich wieder zurück«, meint sie. »Das sieht nach Regen aus.«
»Da hinten?« Ich schüttele entschieden den Kopf. »Dass ich nicht lache. Wir sind gerade erst losgegangen, jetzt wird gewandert, basta.«
Auch auf dem Rest der Strecke gibt es immer einen oberen und einen unteren Weg. Meinem Gefühl nach ist immer der obere Weg richtig, Anne will lieber den unteren gehen. Wie im echten Leben. Obwohl ich total außer Puste bin, streite ich mich alle fünfhundert Meter mit meiner Kollegin, die aus jeder Abzweigung eine Grundsatzdiskussion macht. Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist nur aus Prinzip anderer Meinung. Ich werde mich jedenfalls nicht um des lieben Friedens willen fügen. Auch aus Prinzip.
Schließlich kommen wir doch noch auf der Marendalm an – über Umwege, da bin ich mir sicher. Wir essen Dampfnudeln mit Vanillesoße. Schmeckt köstlich, ich kann mir gar nicht erklären, warum wir die einzigen Gäste sind. Die Marendalm erinnert mich
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