Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
an die Skiurlaube meiner Kindheit mit der ganzen Familie. Damals mochte ich die Vater-Mutter-Kind-Nummer noch.
Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich schon nach zehn Minuten mit gelangweiltem Gesicht den Teller weggeschoben und so lange geschrien hätte, bis mich meine Eltern auf den Boden setzten – so wie Leonie.
Aber nicht mal das kann mich aus der Ruhe bringen. So ungern ich das auch sage, die Kollegen hatten recht: Die Berge wirken erholsam. Der Stress der vergangenen Monate fällt allmählich ab.
Auf dem Rückweg ziehe ich die gesunde Luft tief in meine Lungen. Leonie singt fröhlich »Grün, grün, grün sind alle meine Kleider« vor sich hin.
Auf einmal rotten sich über uns die Wolken wie Wölfe zusammen. Von allen Seiten zerrt schwülwarmer Wind an uns. Ich muss aufpassen, dass ich nicht das Gleichgewicht verliere.
Plötzlich öffnet sich der Himmel, und es strömt Regen auf uns herab, als würde der liebe Gott sein gigantisches Kinderplanschbecken ausleeren. Wir sind nass, bevor wir empört nach oben schauen können. Anne zieht eine Plane aus einem Geheimfach der Kraxe und spannt sie über Leonie. Die schlingt vor Schreck ihre Arme um meinen Kopf und hält mir dabei die Augen zu. Gleichzeitig bläst der Wind in die Plane und weht mich wie ein Segelboot hin und her. Ich strauchele, kann mich aber gerade noch fangen.
»Wie weit ist es noch?«, brüllt Anne.
» Du hast doch immer den Überblick«, schreie ich zurück. »Oder nicht?«
Aber Anne sieht sehr verloren aus.
»Mir nach!«, bestimme ich und stapfe los. Diesmal folgt mir Anne ohne Widerworte. Auch Leonie ist ganz still geworden und hat ihre kalten Hände jetzt unter meinem Kinn gefaltet. Leider kann ich den Verlauf des Wegs kaum erkennen, die Sicht geht bestenfalls noch bis zum nächsten Baum. Zum ersten Mal ahne ich, was es bedeutet, Verantwortung für eine Familie zu haben. Gefällt mir gar nicht.
Fünf Minuten später sind wir klitschnass. Ich höre Leonie in der Kraxe niesen. Meine Turnschuhe sind so glitschig, dass jeder meiner Schritte quietscht.
»Hör mal, ein Frosch«, versuche ich sie aufzumuntern, werde aber von einem Blitz unterbrochen. Es folgt ein gewaltiger Donnerschlag, der von den Bergwänden widerhallt. Leonie schluchzt und murmelt bibbernd: »Keine Angst.« Sie klammert sich an mich.
Ich beiße die Zähne zusammen. Von Regentropfen kann man hier gar nicht mehr sprechen, das sind eher Wasserfälle. Leonie niest erneut.
»Halt!«, höre ich Anne hinter mir. »Wir müssen uns unterstellen, sonst holt sich Leonie eine Lungenentzündung.«
»Unter die Bäume? Bei Gewitter?«
Anne zuckt mit den Achseln. Hilflos breitet sie die Arme aus.
»Ich weiß es doch auch nicht! Okay, dein Weg ist der richtige, du hast gewonnen! Aber zeig ihn uns bitte!«
Ich lasse den Kopf hängen. Warum wollte ich auch unbedingt wandern?
Als ich den Kopf wieder hebe, sehe ich zwei Autoscheinwerfer. Sie gehören einem Pick-up, der sich mit Allradantrieb durch tiefe Pfützen und über hohe Steine den Berg heraufkämpft. Anne und ich winken wie Schiffbrüchige, die in der Ferne das Traumschiff gesichtet haben. Der Wagen kommt näher und hält direkt vor uns. Ein Kerl in orangefarbenem Regencoat springt heraus, in der Hand hält er einen Schirm. Ich laufe zu ihm hin, um die Verhandlungen zu übernehmen. Um ehrlich zu sein, würde ich ihm sogar Anne und Leonie anbieten, um hier wegzukommen.
Irgendwoher kommt mir der Fahrer bekannt vor. Auf seinem Schirm erkenne ich das Logo eines Arm in Arm joggenden Pärchens und darunter den Schriftzug Mr. & Mrs. Perfect .
Schützend hält Annes Verlobter den Schirm über mich. Nein, er hält ihn über Leonie. Das abperlende Wasser läuft direkt in meinen Kragen.
Anne fällt ihm um den starken Hals.
»Hat es doch angefangen zu regnen, was?«, fragt er spöttisch. »Konnte niemand ahnen, oder?«
Ich schüttele stumm den Kopf.
»In den Bergen ändert sich das Wetter von einer Sekunde zur anderen«, belehrt er mich und sieht sich um. »Ihr seid die einzigen Wanderer weit und breit.« Mr. Perfect hebt Leonie aus der Kraxe. Sie kuschelt sich sofort an seine rettende Brust. »Jetzt kommt erst mal rein, ich habe Handtücher, heißen Tee und trockene Sachen mitgebracht.« Verwunderlich, dass er nicht zufällig auch noch ein Vier-Sterne-Menü und elektrische Heizkissen dabeihat.
Anne, Leonie und Mr. Perfect steigen ein. Kurz bevor ich ebenfalls in den Wagen klettern kann, zieht Mr. Perfect von innen
Weitere Kostenlose Bücher