Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
stattdessen versuche ich wieder, sie zu küssen.
Aber sie weicht mir aus und deutet auf Anne. Die schaut mich nun noch verdatterter an.
Oma Eisenstein nutzt die Schrecksekunde, um sich Leonie mitsamt der Zeitschrift wieder auf den Schoß zu setzen. »So, Leonie, du entschuldigst dich jetzt bitte bei deiner Mutter und machst ei, ei. Dann male ich dir mal was richtig Tolles.« Leonie beruhigt sich sofort, gehorcht, geht zu ihrer Mutter und streichelt ihr über die Wange. Dabei flüstert sie leise: »Schuljung.«
Adoré hält mir die aktuelle Ausgabe des »Münchners« hin.
»Hier, du bist doch noch Journalist, oder?«
Ich schüttele den Kopf. »Automechaniker.«
Adoré schaut ungläubig, zuckt mit den Schultern, legt die Ausgabe wieder zu den anderen Zeitschriften und geht zur Rezeption.
Anne sieht ihr hinterher, konzentriert sich dann aber lieber auf Oma Eisenstein, der sie einen halb eifer-, halb streitsüchtigen Blick zuwirft, welcher allerdings in großmütterlicher Großherzigkeit verpufft.
»Gehen Sie doch mal zu zweit frühstücken«, schlägt Oma Eisenstein vor. »Sie haben bestimmt einiges zu besprechen. Ich passe hier auf.«
Anne schaut so skeptisch, als wäre Oma Eisenstein eine berüchtigte Kindesentführerin. Aber ich nicke ihr dankbar zu und ziehe die Mutter mit.
»Komm, Schatz, ist doch toll, wenn sich die beiden gut verstehen.«
»Wenn sich diese Oma noch mal in meine Erziehung einmischt«, murmelt Anne und ballt die Faust, »zeige ich ihr, wie sich der Generationenkonflikt anfühlt.« Sanft schiebe ich sie in Richtung Frühstück.
Als ich mich noch einmal umdrehe, hat Oma Eisenstein die »Ladylike« neben Leonie aufgestellt, hält einen Kajalstift in der Hand und versucht, Leonie wie Sarah Jessica Parker zu schminken.
Im Speisesaal halte ich nach Adoré Ausschau, kann sie aber nirgends entdecken. Familie Fröhlich bevorzugt heute einen kleineren Einzeltisch. Stanley sieht schlimm verkatert aus, aber auf seinem Gesicht liegt ein glücklicher Schimmer. Gerade lässt er die Hand seiner Frau los, um mit Kugelschreiber Linien auf seine Unterarme zu zeichnen. Sie schaut ihn so liebevoll an, als wäre auch er ihr Sohn.
»Familiencontest?«, rufe ich und recke den Daumen in die Höhe. Stanley dreht seinen Kopf zu mir, winkt kurz und erwidert die Geste.
»Siehste«, sage ich zu Anne. Auch die Architekten haben einen neuen Tisch am Fenster, wo sie mit Obi in ein Klatschspiel vertieft sind.
Der Stammtisch, an deren Kopf wie immer Frau Sommer thront, ist neu besetzt. Dort hat ein rothaariger Familienclan Platz genommen, der aus etwa zwanzig bis dreißig Personen besteht, zu einem Drittel erwachsen, der Rest aufgeteilt in viele, viele Kinder und einige Jugendliche, die einander wie aus dem sommersprossigen Gesicht geschnitten sind. Alle haben rotblonde Haare und knallrote Wangen.
»Das ist der Irenclan«, erklärt Stanley, als er auf dem Weg zum Büfett an uns vorbeikommt. »Die nehmen bestimmt nicht am Contest teil.«
Den kleinen Wolken-, Sonnen- und Regenillustrationen in der Frühstücksbroschüre zufolge wird die nächste Woche endlich einmal alle Klimazonen abdecken. Laut dem Artikel im »Familienurlaub« kann das Wetter den Biorhythmus durcheinanderbringen. Egal, meiner ist schon durcheinander.
»Ich brauche jetzt Nervennahrung«, verkündet Anne und begibt sich zum Büfett. Kaum ist sie weg, steht Herr Ainberger an meinem Tisch.
»Wie geht es Ihnen?«, will er wissen.
»Blendend.«
»Das muss nichts heißen«, entgegnet er und lässt mich sitzen. Noch ehe ich über den Geisteszustand des Psychologen nachdenken kann, ist Anne schon wieder da. Auf ihrem Teller sehe ich Rührei mit Speck, Pancakes mit Ahornsirup, kleine Nuss-Nougat-Croissants, Käse und Erdbeeren.
»Mr. Perfect würde dir das sofort aus dem Ernährungsplan streichen«, stelle ich fest.
»Der ist gerade beim Joggen«, murmelt Anne kauend. »Warum versuchst du eigentlich plötzlich, das Hotelpersonal zu küssen?«
Schnell nehme ich ein Croissant, stopfe es zur Hälfte in den Mund und bedeute ihr, dass ich erst herunterschlucken muss.
Anne ist eine Journalistin und wird nicht aufhören zu bohren, ehe sie eine befriedigende Antwort bekommen hat. Also erzähle ich ihr kurz, dass Adoré eine alte Bekannte ist und ich mich am Abend meines plötzlichen Verschwindens wieder in sie verliebt habe, nachdem wir »ein bisschen rumgeknutscht haben«.
»Rumgeknutscht? Wie Teenies?«
»Ja, in der Reicher-Onkel-Suite. Nachdem ich mit
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