Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
Kopf streichen.
Anne wollte unbedingt ein paar Familienausflüge unternehmen, und ich habe mich darauf eingelassen. Biathlon mit ihr war ein Reinfall, weil ihre Kondition zu wünschen übrig ließ, Gletscherski war ihr zu gefährlich, und beim Paragliding hat sie so geschrien, dass der Lehrer sie abstürzen lassen wollte. Beim Familienkurs »Ein besserer Mensch durch afrikanisches Trommeln« bin ich vielleicht kein besserer Mensch geworden, aber auf jeden Fall ein besserer Trommler.
Langsam begreife ich auch das Prinzip der weiblichen Kriegsführung: Während das Weiche nachgibt, bricht das Harte. Anschließend geht das Weiche dem Harten wieder derart auf den Keks, bis das Harte, nun ja, selbst weich wird. Oder so. Oh nein, jetzt denke ich schon wie eine Spa-Broschüre.
Meinen Artikel habe ich trotzdem schon so gut wie fertig geschrieben. Ja, er ist böse. Ja, er wird Annes und meine Harmonie zerstören, die frisch erblühte Freundschaft zunichtemachen und Anne auf lange Sicht traumatisieren. So ist das Leben.
Deshalb werde ich ihr heute die Wahrheit sagen, über die Halbtagsstelle, die »betriebsbedingt gekündigt« wird, und über meinen Geheimauftrag – auch wenn das am Ende bedeutet, dass ich ein Einzelzimmer »Bei Anton« nehmen muss.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen morgendlichen Gedankenspielen. Verschlafen öffne ich. Vor mir steht Jeannie. Sie wirkt hektisch.
»Wo ist denn Ihre …« Sie sucht nach den richtigen Worten. »Ihre Begleiterin. Wo ist Ihre Begleiterin?«
»Wahrscheinlich mit der Kleinen in dem tollen Schrankklo.« Ich werfe einen vielsagenden Blick auf das leere Kinderbett.
Jeannie verliert keine Sekunde und zieht mich aus dem Zimmer.
»Das ist ein Notfall, kommen Sie mit!«
Oh nein. Hoffentlich hat Anne nicht wieder eine Schlägerei angefangen.
Wenig später stehe ich in der Lobby vor einer Menschentraube, die sich um das neongelbe Ledersofa drängt. Der Architekt, der weiter außen steht, wirft mir einen Blick zu, der mich das Schlimmste erahnen lässt. Wie ein Sanitäter dränge ich mich durch die Gäste. Tatsächlich: Auf dem Sofa liegt Leonie. Sie hat die Augen und den Mund weit aufgerissen. Der Schock fährt mir in die Glieder, mein Mund wird trocken, die Knie weich.
Oma Eisenstein sieht mich bedrückt an. »Ihre Frau hat gesagt, ich soll auf die Kleine aufpassen – sie mag doch die Gummimannle so gern und wollte immer weiteressen. Auf einmal ist sie ganz still geworden.«
»Vielleicht ein Zuckerschock«, vermutet ein Gast, als wäre das Ganze nur eine Art Erste-Hilfe-Übung. Auch die anderen Eltern und Kinder stehen apathisch herum, keiner kommt auf die Idee, Leonie hochzuheben.
»Warum tut denn keiner was?«, rufe ich.
Leonie streckt mir die Arme entgegen, scheint etwas sagen zu wollen. Ich nehme sie auf den Arm. Sie versucht Luft zu schnappen, aber ihrer Kehle entringt sich nur ein fiependes Keuchen.
»Wir können doch kein fremdes Kind anfassen, so ohne offizielle Genehmigung«, höre ich eine empörte Stimme in meinem Rücken. Leonies Gesicht färbt sich jetzt leicht lila. Keine Zeit zu diskutieren.
»Ihr steckt so ein Gummiteil in der Luftröhre!«, rufe ich.
Oma Eisenstein winkt ab. »Ich habe ihr schon auf den Rücken geklopft, aber das hat auch nichts gebracht.«
Hilflos starren mich die Mütter und Väter an. Geklopft? Bin ich denn nur von Idioten umgeben? Hat denn hier niemand Zivildienst gemacht? Leonie ringt nach Luft. Ich erinnere mich an meinen Erste-Hilfe-Kurs: Wenn einem etwas in der Kehle steckt, soll man ihn einfach richtig auf den Rücken hauen. Nicht klopfen.
Leonie sieht mich Hilfe suchend an, sie kriegt aber keinen Laut heraus. Ohne zu zögern, lege ich sie übers Knie, sodass ihr Kopf nach unten zeigt, und haue ihr kräftig mit der flachen Hand auf den Rücken, einmal, zweimal, relativ hart hintereinander, dreimal. Die anderen Gäste starren mich an, als würde ich in ihrer Mitte mein Kind verprügeln. Aber Erste Hilfe muss auch von zärtlichen Eltern konsequent durchgeführt werden. Es ist nur zu Leonies Bestem.
Beim vierten Schlag hustet sie einen glänzenden murmelgroßen Gummiklumpen auf den Teppich. Sie holt tief Luft und fängt sofort an zu husten, bevor ihr die Tränen aus den erschrockenen Augen kullern.
Ihre Gesichtsfarbe ändert sich schlagartig von lila zu rot, während ich in Boxershorts und Schlaf-T-Shirt auf dem Sofa sitze und die Kleine ganz vorsichtig in den Arm nehme. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, schießen auch
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