Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
nicht ab«, flüstert er keuchend und deutet nach oben. »Wir ersticken.«
Mein Blick folgt seinem Finger. In der Tat scheint sich über den natürlichen Schornstein eine dicke Schneeschicht gelegt zu haben. Der weiße Rauch steht oben in der Höhle und wabert bedrohlich nach unten. Ich spüre bereits das Brennen in den Augen.
»Raus!«, rufe ich hustend, schultere Stanley und schleppe ihn zum Eingang.
Mit einem schneefeuchten Kunstfellstück vor dem Mund, renne ich zurück in die Höhle. Ich greife mir zwei große, warme Steine, die nah am Feuer liegen, und laufe zurück zu Stanley. Für einen Moment gelingt es mir, ihn wach zu rütteln. Ich erkläre ihm, dass ich ihn zurück zu seiner Familie trage, er müsse sich bitte nur die beiden warmen Steine vor Brust und Bauch halten. Stanley öffnet kurz die Augen und nickt schwach. Sicherheitshalber klemme ich die Steine unter den Lederriemen auf seiner Brust fest.
Es dauert ein paar Minuten, bis ich ihn auf meinen Rücken gewuchtet habe. Die Steine machen die Sache nicht gerade leichter. Als ich mich aufrichte, knackt meine Wirbelsäule. Egal, mein Kreuz ist eh hinüber. Der Gedanke an Leonie, die vor Tagen auf meinem Rücken auf und ab gehüpft ist, macht mir Mut. Ich gehe los. Etwa hundert Meter vor mir müsste der Weg liegen. Dann rechts, zur Kreuzung.
Während ich durch den Schnee stapfe, ist das Mantra, das mich vorantreibt, nicht: »Ich muss es für meine Nachtlebenkolumne schaffen«, sondern: »Leonie braucht einen anständigen Vater.« Ich falle in eine Art Trance, spüre keine Kälte, nur ab und an die Wärme der aufgeheizten Steine an meinen Nieren.
Irgendwann komme ich zu dem Wegweiser. Mit letzter Kraft biege ich in Richtung Hütte ab. Wenig später höre ich hinter mir jemanden rufen: »Wohlan! Wandersmann!«
Ich drehe mich um und sehe etwa hundert Meter entfernt zwei Berggorillas. Nein, das kann nicht sein. Yetis! Der eine will wissen, ob bei uns alles okay ist. Es sind Paleo-Wanderer, mit mehr Fell ausgestattet als wir – und mit jeder Menge Herz und Muskeln.
Anderthalb Stunden später sitze ich im Wartezimmer der Notaufnahme. Im Gegensatz zu Stanley bin ich mit »leichten Verkühlungen« davongekommen. Die Ärzte haben mir eine Decke umgelegt und einen heißen Jagertee spendiert. Ich musste nicht einmal die zehn Euro Aufnahmegebühr bezahlen, weil ich in diesem Quartal schon in der Notaufnahme war.
Stanley dagegen liegt noch in einer Art Brutkasten für Erwachsene. Er hat starke Unterkühlungen, doch entgegen meinen ersten Befürchtungen müssen ihm keine Zehen amputiert werden.
Als wir in der Hütte angekommen waren, erzählte ich dem Wirt, dass Mr. Perfect wahrscheinlich irgendwo im Schnee liegt. Er hat sofort die Bergwacht alarmiert. Aber die konnte ihn bisher nicht finden. Sowenig ich den Kerl auch leiden kann, den Tod wünsche ich ihm nicht.
Jetzt warte ich noch auf Familie Fröhlich, die mich an Stanleys Krankenbett ablösen soll. Herr Béla wird sie herbringen und mich auf dem Rückweg mit ins Hotel nehmen. Vielleicht begleiten ihn ja Anne und Leonie. Keine Ahnung, wie ich ihnen die traurige Nachricht vom Verschwinden ihres Vaters und Verlobten überbringen soll.
Selbst Stanleys schöne Frau, die wenig später mit ihren Kindern im Krankenhaus eintrifft, kann mich nicht aufheitern. Vor lauter Dankbarkeit will sie mich auf irgendein Getränk einladen, »gern auch später, wenn die Kinder im Bett sind«, aber für heute haben bereits genug Ehen ihre Bedeutung verloren. Herr Béla ist allein gekommen, wahrscheinlich war das Auto einfach voll. Er stützt mich auf dem Weg zum Parkplatz. Dieser Urlaub schafft mich echt. So bin ich noch aus keinem Klub gehumpelt.
Vor dem Hotel »Zum Wilden Mannle« steht ein Krankenwagen. Die meisten Gäste haben sich vor dem Haus versammelt und starren das Blaulicht an. Herr Béla parkt den Hoteltransporter direkt daneben. Als ich aussteige, schieben zwei Sanitäter gerade eine Trage in den Wagen. Wer unter der Sauerstoffmaske liegt, kann ich nicht erkennen. Hoffentlich nicht Mr. Perfect. Dann geht mir eine weitaus schlimmere Möglichkeit durch den Kopf. Ich springe aus dem Auto und renne zu den Sanitätern.
»Entschuldigung«, stammele ich atemlos und werfe einen Blick in den Wagen, in dem eine zweite Trage steht. Sie ist mit einem weißen Laken bedeckt, unter dem sich die Silhouette eines menschlichen Körpers abzeichnet.
Hoffentlich liegt da nicht Anne, der meine verrückte Stalkerin etwas angetan hat!
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