Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
zu spät. Wir müssen Hilfe holen, solange wir noch können«, fordert er.
»Wir? Und wer bleibt dann bei ihm?«
»Du. Ich bin der Stärkere, ich kann es zurück zum Hotel schaffen – selbst bei diesem Wetter.« Bevor mein Kopf anfängt zu überlegen, weiß mein Bauch bereits, dass Mr. Perfect recht hat.
Bevor wir in den Wald abgebogen sind, also etwa eine halbe Stunde von unserer Höhle entfernt, habe ich ein Schild gesehen, auf dem der Name einer Hütte stand und dahinter die Zeitangabe »¾ Stunde«. Das wäre ein Fußmarsch von rund anderthalb Stunden – für einen kräftigen Mann ohne viel Gepäck. Wir haben noch Holz für drei bis vier Stunden. Dann bricht die Nacht herein. Bis dahin sollten die Retter hier eintreffen, sonst erfrieren wir.
Ich nehme Stanley den Flachmann aus den klammen Händen. Darauf hat er ein Bild geklebt, das eine Familie als Strichmännchen zeigt: Mutter, Vater und zwei Kinder. Wahrscheinlich hilft ihm der Alkohol mitunter, seine Liebsten überhaupt zu ertragen. Trotzdem müssen wir ihn so schnell wie möglich zu ihnen zurückbringen.
Vielleicht bin ich sonst kein Held, aber heute bringe ich das größte Opfer, das ein Mann für einen anderen bringen kann. Zuerst ziehe ich mein Fell aus. Mr. Perfect schaut mich beunruhigt an. Als Nächstes schlüpfe ich aus meiner Hose.
»Was hast du denn jetzt vor?«, will er wissen. »Wenn du mich vor dem sicheren Tod noch einmal richtig aufwärmen willst, muss ich dich enttäuschen.«
Ich verdrehe die Augen und deute auf meine lange Unterhose. »Die kriegst du von mir. Je wärmer du angezogen bist, desto besser kommst du durch den Schnee. Zwei Schichten halten mehr Kälte ab als eine.«
Er schüttelt den Kopf. »Nee, nee, mein Lieber, ist nett gemeint, aber das Angebot muss ich ablehnen.«
»Es geht hier um unser Überleben, da fressen manche Menschen die anderen. Hier ist kein Platz für Eitelkeiten.«
Mr. Perfect mustert mich.
»Das mit dem Fressen war kein Vorschlag«, stelle ich klar. Für einen Moment flackert in seinem Blick wieder jene abfällige Brutalität auf, die ich schon vorhin darin gesehen habe. Schließlich streckt Mr. Perfect die Hand aus. Ich gebe ihm meine lange Unterhose, hülle mich schnell wieder in meine Kunstfelle und lege noch einen dicken Ast aufs Feuer. Während er sich umzieht, erzähle ich ihm von dem Wegweiser. Er hat ihn auch gesehen und verspricht, sich zu beeilen.
»Viel Glück«, wünsche ich.
»Wenn ich in einer Stunde nicht wieder zurück bin, ruft die Polizei«, antwortet er und verschwindet gackernd im Schnee.
Jetzt habe ich ausreichend Zeit, um über Familie nachzudenken. Also lehne ich mich zurück und überlege, ob ich mit Adoré Kinder haben wollen würde. Die Antwort kommt erschreckend schnell: Ja.
Ich stelle mir vor, wie wir zu dritt in den Zoo gehen, im Herbstlaub toben, im Biergarten sitzen oder einfach nur den ganzen Tag kuscheln. Das Kind in meiner Vorstellung sieht aus wie Leonie.
Kalt.
Das Feuer ist fast erloschen. Muss eingenickt sein. Wie spät es wohl ist? So verkühlt, wie ich mich fühle, habe ich bestimmt zwei Stunden geschlafen. Viel länger sollte Mr. Perfect für den Weg zur nächsten Hütte eigentlich nicht gebraucht haben. Er müsste längst wieder hier sein – oder zumindest die versprochenen Retter. Ich lege meine Hand auf Stanleys Stirn. Sie glüht, obwohl sie schweißnass ist. Sein Atem geht flach.
In Actionfilmen sterben Leute mit solchen Symptomen ein paar Minuten später. Ich rüttele an seiner Schulter. »Stanley«, rufe ich. Er reagiert nicht. Aus meiner Schweinsblasenflasche flöße ich ihm den letzten Schluck getautes Schneewasser ein. Kurz öffnet er die Augen, erkennt mich aber nicht. Er bäumt sich auf und sackt dann wieder in sich zusammen. Sein Fuß ist trotz der Kälte noch stärker angeschwollen – so viel zum Thema »Kühlen hilft«. Die Zehen sind jetzt an beiden Füßen blau angelaufen. Ich lege den Rest Holz auf das Feuer, bis die Flammen lodern.
Als mir wieder etwas wärmer geworden ist, gehe ich zum Höhleneingang und halte nach unseren Rettern Ausschau. Aber draußen kann ich außer Schneegestöber gar nichts mehr erkennen. Der Wind hat Mr. Perfects Fußspuren längst verweht. Zu kalt da draußen.
Stanley hustet immer häufiger, auch ich spüre langsam ein Kratzen in der Lunge, obwohl das neue Feuer uns eigentlich gut wärmt. Stanley murmelt etwas. Weil ich ihn nicht verstehe, halte ich mein Ohr direkt vor seinen Mund.
»Der Rauch zieht
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