Dreikönigsmord (German Edition)
die Jungs unauffällig zusammenzutrommeln. Ich habe nämlich einen Plan, wie wir Jo …, ich meine Josepha, befreien können.«
Ein Fieberschauer erfasste Jo. Da ihr unerträglich heiß war, stieß sie die Strohbüschel weg.
Sie war wieder Leiterin des Sondereinsatzkommandos. »Los!«, schrie sie, nachdem der Sprengsatz die Wohnungstür aufgedrückt hatte. Mit entsicherter Pistole stürmte sie in den Flur. Das Adrenalin ließ sie alles überdeutlich wahrnehmen. Den schwachen Geruch von Kaffee und gebratenem Fleisch, der durch den Schutzschild ihres Helms drang. Den billigen, abgewetzten Teppichboden. Das Puzzlebild einer Berglandschaft an der Wand.
Drei Türen zweigten von dem Flur ab. Alle waren geschlossen. Jo hörte, wie ihre Kollegen hinter ihr die Türen auftraten. Sie selbst rannte auf die dritte zu, die sich am Ende des Gangs befand. Vor ihr knallte ein Schuss. Das Echo hallte zwischen den Wänden wider. Nun war sie endlich an der Tür, trat sie auf. Ein fetter, ungepflegter Mann glotzte ihr entgegen. In der rechten Hand hielt er eine Waffe. Die rauchende Mündung zeigte zu Boden. »Waffe fallen lassen! Sofort!«, brüllte Jo.
Der Mann lockerte seine Finger. Mit einem dumpfen Laut schlug der Revolver auf den Teppich. Jo stieß ihn mit dem Fuß außer Reichweite des Mannes. Nun erst hörte sie das Stöhnen. In einer Zimmerecke lag eine Frau, deren Hand- und Fußknöchel mit Paketklebeband gefesselt waren.
Jo rannte zu der Frau, drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Sie registrierte nur – wie in großer Ferne –, dass ihre Kollegen nun im Zimmer waren und den Mann auf den Boden warfen und fesselten.
»Es wird alles gut«, hörte Jo sich sagen. »Halten Sie durch. Gleich kommt Hilfe.« Auch der Mund der jungen Frau, aus dem das qualvolle Röcheln drang, war mit Klebeband verschlossen. Ihre weit aufgerissenen Augen blickten glasig. Blut strömte aus einer Schusswunde in ihrer Brust. Als Jo das Klebeband abriss, drang ein Blutschwall zwischen den Lippen der Frau hervor und spritzte auf ihren Kampfanzug.
Während Jo sich auf den Steinplatten ihrer Zelle herumwälzte, meinte sie wieder, den metallischen Geruch des Bluts wahrzunehmen, der sich mit dem Rauch des Revolvers mischte. Panisch tastete sie über ihre Arme, um die Spritzer wegzuwischen.
Sie waren zu spät gekommen. Und dies war allein ihre Schuld gewesen, weil sie zu lange eine falsche Spur verfolgt hatte. Noch im Krankenwagen war die junge Frau – sie hatte Maja geheißen – gestorben. Auch an Annas Tod war sie schuld. Viel früher hätte sie die Zusammenhänge zwischen den Morden bemerken und entdecken müssen, dass Leonard der Täter war.
Jo fing an zu weinen. Im Grunde genommen hatte sie es verdient, dass Leonard nun auch sie bald töten würde.
»Mutter, Mutter!« Schreiend rannten die beiden Kinder in die Stube.
Die Töpferin Gwendolin, die gerade einen Kunden bediente, fuhr herum. »Nun, macht doch nicht so einen Lärm«, sagte sie ärgerlich. »Ihr seht doch, ich habe zu tun.«
»Mutter«, die Stimme des Mädchens überschlug sich, während sich ihr jüngerer Bruder ängstlich an ihrem Arm festklammerte, »Hans, der Sohn von Meister Alwin, hat beim Schlittenfahren einen Toten entdeckt. Er lag unter dem Schnee.«
»Und Hans hat sich das nicht nur ausgedacht, um euch zu erschrecken?« Die Töpferin blickte ihre Kinder forschend an. Wenn der Junge das bezweckt haben sollte, dachte sie, war er erfolgreich gewesen. Sowohl ihr Sohn als auch ihre Tochter wirkten völlig verstört.
»Nein«, das Mädchen schluckte, »wir haben den Toten ja selbst gesehen. Also nicht ganz. Aber seine Hand …«
»In der Stadt hat es in der letzten Zeit ja schon einige Todesfälle gegeben«, mischte sich der Kunde ein. Er war ein Apotheker, der bei der Töpferin eine größere Anzahl Tongefäße für seine getrockneten Kräuter bestellt hatte. »Meint Ihr nicht, Gwendolin, Ihr und ich sollten uns diesen Toten einmal ansehen?«
Nachdem die Töpferin ihre Kinder angewiesen hatte, sich ans Feuer zu setzen, machten sie und der Apotheker sich auf den Weg zur Schlittenbahn. Mittlerweile hatte die Abenddämmerung eingesetzt. Bevor sie die Stelle am Berg erreichten, sahen sie schon den Fackelschein. Einige von Gwendolins Nachbarn hatten sich bei der Leiche versammelt. Miteinander tuschelnd starrten sie den Toten an, der nun gänzlich aus dem Schnee gegraben war.
Gwendolin sah einen dunklen Mantel und ein hageres Gesicht, das ein langer grauer Bart umrahmte.
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