Dreikönigsmord (German Edition)
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. »Nein, es gab keine Schleifspuren im Schnee. Allerdings führten Fußspuren von der Mauer zu der Leiche und wieder zurück.« Erneut war ihre Stimme ganz sachlich. »Von ihrer Größe her waren es die eines Mannes. Ganz abgesehen davon, dass eine Frau wohl auch eine andere Mordmethode als das Durchschneiden einer Kehle wählen würde.«
»Alle Achtung, Ihr seid eine gute Zeugin.« Lutz Jäger klang beeindruckt.
»Junger Mann, ich habe Augen im Kopf und weiß sie zu gebrauchen.«
»Was mehr ist, als man von vielen Menschen sagen kann … Was ich aber nicht verstehe«, er beugte sich vor und sprach aus, was auch Jo beschäftigte, »warum hat sich der Täter die Mühe gemacht, seinem Opfer bis auf das Klostergelände zu folgen? Warum hat er Anselm nicht auf der anderen Seite der Mauer getötet? Oder sich dort – wir wissen ja nicht, was genau geschehen ist – mit ihm verabredet?«
»Ich nehme an, er benötigte Licht.«
»Wie meint Ihr das?«
»Nun, während der Vigil und der Matutin brennen in der Kirche die Kerzen. Der Schein fällt durch die Fenster der Apsis bis zu den Stallungen. Ich vermute, der Mörder hat den Toten durchsucht. Wir haben in den Taschen des Jungen jedenfalls nichts gefunden. Und auch sein Bündel war verschwunden.«
So etwas wie Taschenlampen gibt es hier ja nicht, schoss es Jo durch den Kopf . Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie fremd ihr diese Welt war.
»Ein solches Vorgehen lässt auf einen sehr kaltblütigen Mörder schließen«, hörte sie ihren Kollegen sagen.
»Allerdings.« Die Äbtissin nickte. »Ich schlage vor, dass Ihr Euch den Toten nun einmal anseht.«
Wer , dachte Jo gereizt, während sie und Lutz aufstanden und der alten Frau nach draußen folgten, leitet hier eigentlich die Ermittlungen?
»So, hier haben wir den Jungen aufgebahrt.« Am Eingang der Scheune trat die Äbtissin beiseite, um Jo und Lutz den Vortritt zu lassen.
Na wunderbar , dachte Jo. Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Säcke, Körbe und Kisten waren entlang der Fachwerkwände des großen, zugigen Raums gestapelt. Einige Öllampen, die von einem Deckenbalken herabhingen, verbreiteten ein blakendes Licht. Der Leichnam lag auf einem aufgebockten Brett. Zu allem Überfluss war auch noch ein Leinentuch über ihn gebreitet.
»Die Kleider des Jungen findet Ihr hier.« Die Äbtissin deutete auf einen viereckigen, mit einem Deckel versehenen Korb, der neben dem Leichentisch stand. »Ich lasse Euch jetzt allein. Kommt bitte zu mir, wenn Ihr mit der Untersuchung der Leiche fertig seid, und berichtet mir, was Ihr herausgefunden habt.«
»Natürlich werden wir das tun.« Lutz Jäger verbeugte sich leicht. Einige Augenblicke sahen sie der Äbtissin nach, wie sie hinaus auf den schneebedeckten Hof ging, wobei sie sich wieder, auf ihre Krücke gestützt, erstaunlich behände bewegte.
»Eine bemerkenswerte Frau«, murmelte Lutz.
»Hmm …« Jo brummte entnervt, während sie das Tuch wegzog. Die Haut des Leichnams hatte einen gelblichen Wachston. Seine Kinnlade war mit einem Stoffstreifen hochgebunden. Trotzdem konnte sie erkennen, dass Anselms Gesichtszüge sehr fein gewesen waren. Dunkelbraunes, lockiges Haar fiel auf seine Schultern. Der Junge musste wirklich hübsch gewesen sein. Es versetzte Jo einen leichten Schock, als ihr klarwurde, dass jenes halbverweste Skelett plötzlich ein Antlitz bekommen hatte.
Reiß dich zusammen!, befahl sie sich. Wahrscheinlich arbeitet dein Gehirn in diesem Moment wie eine Art Computerprogramm und modelliert aus deiner Erinnerung an den knochigen Schädel ein menschliches Gesicht.
Langsam ließ sie ihren Blick über den Toten wandern. In seiner Kehle klaffte eine tiefe, lila-rot verfärbte Wunde. Doch nirgends konnte Jo einen Blutspritzer entdecken. Er war sorgfältig gewaschen worden.
»Toll … Sämtliche DNA-Spuren den Ausguss hinuntergeschwemmt«, murrte sie.
»Ganz davon abgesehen, dass es hier wahrscheinlich keine Ausgüsse gibt – wir hätten sowieso keine DNA nehmen können. Warum also daran einen Gedanken verschwenden?« Lutz Jägers Stimme hörte sich aufreizend gleichmütig an. »Jetzt lassen Sie uns schon den Leichnam untersuchen.«
»Ja, bei diesen erstklassigen Lichtverhältnissen werden wir auch ganz sicher etwas finden. Mein Gott, wir besitzen noch nicht einmal ein so einfaches Hilfsmittel wie eine Lupe …«
»Sagte ich Ihnen nicht bereits, dass Sie alles immer viel zu pessimistisch sehen?« Lutz
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