Dreiländermord
längst auf belgischem Gebiet befunden hatten, ohne an einer erkennbaren
Staatsgrenze vorbeigefahren zu sein.
Kennen war zu viel gesagt. Böhnke war zwei-oder
dreimal mit Lieselotte in der Kleinstadt gewesen, konnte sich jedoch keine Vorstellung
mehr von dem Stadtbild machen. Auch hatte er früher dienstlich in Eupen zu tun gehabt.
Das war allerdings lange her.
»So schön ist es dort auch nicht«, beurteilte Sümmerling lästernd,
während er sich an einer beampelten Kreuzung orientierte. »Früher hat der BRF sein
Domizil in einem schmucken Patrizierhaus in der Eupener Innenstadt direkt neben
dem Regierungssitz der Deutschsprachigen Gemeinschaft gehabt. Jetzt ist er umgezogen,
und ich verfahre mich fast jedes Mal, wenn ich zum Sender will. Dabei ist es eigentlich
ganz einfach. Wir müssen nur nach den Flutlichtmasten vom Sportplatz des AS Eupen
gucken.« Er hatte richtig gesucht. Zügig bog er vom Kehrweg gegenüber der Sportanlange
auf den Parkplatz neben dem Neubau des BRF in eine Parklandschaft ein. Im Park,
in dem auch in einer Baracke der Schachclub Rochade Eupen/Kelmis und in einem weiteren
älteren Gebäude ein Internat des Robert-Schumann-Instituts untergebracht waren,
hatte es, wie Böhnke auf einem Schild neben dem Eingangstor ablas, früher ein Sanatorium
für Lungenkranke gegeben.
»Da wären wir. In diesem modernen Prachtpalast
residiert der deutsche Rundfunk von Belgien. Die angemessene Behausung für einen
allmächtigen Rundfunkmann«, brummte der AZ-Reporter durchaus neidisch bei Betrachtung
des rechteckigen, großflächigen Hauses. »Hier lässt sich gut leben und arbeiten.«
Und der Chefredakteur des deutschsprachigen Programms des BRF lebte
augenscheinlich prächtig. Im eleganten, hellen Atrium, das zugleich als Veranstaltungshalle
dienen konnte, empfing ein großer, schwergewichtiger Mann Anfang 50 den pensionierten
Kommissar und seinen Kollegen Sümmerling, den er herzlich umarmte.
»Du warst auch schon einmal schlanker«, meinte Sümmerling despektierlich
und stellte Böhnke vor.
Dieser griff freundlich nach der ausgestreckten Hand des Rundfunkchefs.
»Guillaume Wilhelm«, nannte der Gastgeber lächelnd seinen Namen.
»Wir nennen ihn nur Willi Willi oder Doppelwilli«, unterbrach ihn Sümmerling.
»Aber wenn ich dich so anschaue, bist du zum Willi im Quadrat geworden«, lästerte
er.
Er konnte jedoch Wilhelm mit seinem Spott nicht
aus der Ruhe bringen. Immer noch lächelnd klopfte er sich auf seinen prallen, beachtlichen
Bauch. »So ist das eben mit dem Leben«, fabulierte er mit einem leichten französischen
Einschlag, während sie sein Büro im ersten Stock ansteuerten. »Ich habe im Laufe
der Jahre enorm viel Wissen angehäuft, da passt nicht mehr alles in den Schädel.
Deshalb habe ich es im Bauch abgelagert. Man spricht ja nicht umsonst von Bauchentscheidungen,
Sümmerling. Doch davon hast du Hungerhaken bestimmt keine Ahnung.«
Kaum hatten sie das Büro betreten, schrillte das Telefon auf dem mächtigen
Schreibtisch aus Eiche. Wilhelm griff entschuldigend zum Gerät, sprach schnell und
akzentfrei mit dem Anrufer französisch und wandte sich wieder seinen Gästen zu,
um Böhnke auf Deutsch über seinen ungewöhnlichen Namen aufzuklären.
»Mein Vater ist Deutschbelgier und hieß mit Familiennamen Wilhelm.
Meine Mutter kommt aus dem frankophilen Teil unseres Königreichs und gab mir den
französischen Vornamen Guillaume, auf deutsch: Wilhelm.«
»So sind sie halt, die Belgier, essen sich mit Pommes frites kugelrund
und können sich nicht auf eine Sprache einigen«, mischte sich Sümmerling feixend
ein. Ihm gefiel anscheinend nicht, dass sich Wilhelm mehr mit Böhnke als mit ihm
beschäftigte.
Aber wieder reagierte der Angesprochene gelassen, ohne auf den Spott
einzugehen. Er wandte sich Böhnke zu. »Ich habe den Kollegen des Grenz-Echos gebeten,
in meine Redaktion zu kommen. Hier können wir gemeinsam über euer Anliegen reden.
Sümmerling hätte ohnehin nicht zum Grenz-Echo in der Innenstadt gefunden. Der kennt
nämlich nur den Weg zu mir und zu einer Pommesbude in der Nähe.«
Das aufgeregte Klopfen an der Zimmertür unterband einen aufkeimenden
Disput zwischen den beiden Männern. Ein kleiner, nervöser Mann stürzte hinein, streckte
flüchtig die Hand zum Gruße aus und stellte sich als Peter Geraedts vom Grenz-Echo
vor, »der einzigen deutschen Stimme in Ostbelgien.«
»Was hat denn diese Stimme uns schon zu verkünden«, knurrte Sümmerling,
der ungehalten in einer
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