Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
darin. Er geht zu diesem Pavillon hinüber, um von dort den Teil des Hauses auszuspähen, der ihm bisher verborgen geblieben ist. Von hier aus kann er die ganze Ostfassade überblicken, Sokolows Balkon, das Dachgesims aus roten Ziegeln, die Regenrinne, den Blitzableiter. Um Regenrinne und Blitzableiter instand zu halten, muss man hinaufsteigen können, denkt Max. Mit neuer Hoffnung sucht er Meter für Meter die Hauswand ab. Und was er dort sieht, zaubert ihm das einstige Lächeln aufs Gesicht, ein verjüngendes Lächeln, das die Spuren der Zeit aus seinen Zügen zu tilgen scheint: In die Mauer eingelassene Eisenstufen führen vom Garten bis hinauf zum Dach.
Nachdem er das Fernglas in der Hülle verstaut hat, schlendert Max wie ein Spaziergänger auf das Gebäude zu. Als er den Fuß der Stiege erreicht, blickt er nach oben: Die Sprossensind rostig, auch die Wand hat Rostflecken, aber sie machen einen stabilen Eindruck. Die Erste befindet sich knapp über einem Blumenbeet. Die Entfernung bis zum Dach beträgt etwa zwanzig Meter, und die Stufen liegen nicht allzu weit auseinander. Der Kraftaufwand scheint vertretbar: ein paar Minuten Aufstieg bei Dunkelheit unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßregeln. Es wäre ratsam, überlegt er, einen Gurt und einen Karabinerhaken mitzubringen, damit er sich sichern könnte, falls es zu anstrengend würde und er unterwegs eine Pause einlegen müsste. Die übrige Ausrüstung wäre nicht sehr sperrig: ein leichter Rucksack, ein Kletterseil, einige Werkzeuge und eine Taschenlampe; und er braucht geeignete Kleidung. Er sieht auf die Uhr. Die Läden im Zentrum, auch die Eisenwarenhandlung Porta Marina haben um diese Zeit schon geöffnet. Ein Paar Sportschuhe wird er sich auch besorgen müssen sowie Schuhwichse, um sie schwarz zu färben.
Er geht durch den Garten davon, und wie in seinen besten Zeiten verspürt er eine akute Aufregung, eine Spannung angesichts der bevorstehenden Aktion. Das alte, wohlvertraute Kribbeln der Ungewissheit, gelindert durch einen Drink oder eine Zigarette, das versetzt ihn kurz in eine Zeit, da die Welt als Jagdrevier den Verwegenen vorbehalten war. Da das Leben nach türkischem Tabak duftete, nach den Cocktails in den exklusiven Hotelbars, nach sinnlichen Parfüms. Nach Lust und Gefahr. Und die Erinnerung daran verleiht ihm mit jedem Schritt weiteren Schwung und Elan. Und als er vor sich auf den Weg schaut, sieht er, dass sein altes Charisma zurück ist. Die Sonne, die durch die hohen Kronen der Pinien fällt, wirft seinen Schatten auf den Boden, so lang und bündig wie früher. Seinen Schatten, der fest mit seinen Füßen verbunden ist, alterslos, keine Spur von Müdigkeit oder Verfall. Frei von Lügen. Und nachdem sein Schatten das verlorene Charisma wiedergefunden hat, fängt der einstige Salontänzer zu lachen an, wie er schon sehr lange nicht mehr gelacht hat.
11 GEWOHNHEITEN EINES ALTEN WOLFS
Es regnete noch immer über Nizza. In dem düsteren grauen Licht, das die Altstadt durchdrang, hing Wäsche von den Balkons wie Fetzen eines gescheiterten Lebens. Mit zugeknöpftem Mantel und aufgespanntem Regenschirm eilte Max über die Piazza del Gesú, wich den Pfützen aus, so gut er konnte, und bewegte sich auf die Steintreppe der Kirche zu. Dort erwartete ihn Mauro Barbaresco, an die geschlossene Tür gelehnt, die Hände in den Taschen des nassglänzenden Regenmantels, und sah ihm unter der triefenden Hutkrempe hervor fragend entgegen.
»Heute Nacht«, sagte Max.
Ohne ein Wort setzte sich der Italiener in Bewegung und ging in Richtung der Rue de la Droite. Max ihm nach. An der Ecke gab es eine Bar, und zwei Häuser weiter eine Toreinfahrt. Schweigend liefen sie durch einen offenen Hof und stiegen über eine knarrende Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Dort schloss Barbaresco eine Tür auf und ließ Max den Vortritt. Max stellte seinen Schirm an die Wand, nahm den Hut vom Kopf und schüttelte das Wasser ab. Die Wohnung war dunkel und wirkte ungemütlich, es roch nach gekochtem Gemüse und feuchter, schmutziger Wäsche. Vom Flur führte eine Tür in die Küche, eine andere war halb geschlossen, und durch den Spalt sah man das Schlafzimmer mit dem ungemachten Bett, und eine dritte ging in ein Wohnzimmer mit zwei abgewetzten Sesseln, einer Kommode undeinem Esstisch, auf dem noch Reste des Frühstücks standen. An diesem Tisch saß mit offener Weste und bis über die Ellbogen hochgeschobenen Hemdsärmeln Domenico Tignanello und las die Comicseite der
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