Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
wäre er in Gedanken ganz woanders. Als nähme er Max’ Verwirrung gar nicht wahr.
»Haben Sie mitgebracht, was Sie besorgen wollten?«
Max hatte es die Sprache verschlagen, er sah ihn einige Augenblicke wortlos an und überlegte dabei fieberhaft, welche Rolle Mostaza hier spielte und welche er selbst.
»Wo sind sie?«, stieß er schließlich hervor.
»Wer?«
»Barbaresco und Tignanello ... Die Italiener.«
»Ach, die.«
Der andere rieb sich das Kinn und lächelte schmal.
»Der Plan hat sich geändert«, sagte er.
»Ich weiß nichts von einer Änderung. Ich muss sie sehen. So war es vereinbart.«
Mostazas Brillengläser funkelten, als er mit nachdenklicher Miene den Kopf senkte und wieder hob. Er schien über Max’ Worte zu grübeln.
»Ja, natürlich ... Vereinbarungen und Verpflichtungen, schon klar.«
Er erhob sich schwerfällig und klopfte sich den Hosenboden ab. Dann rückte er die Fliege zurecht und kam herunter zu Max. In seiner rechten Hand blitzte ein Schlüssel.
»Schon klar«, wiederholte er und schloss die Tür auf.
Er trat höflich zur Seite, um Max vorgehen zu lassen. Und das Erste, was Max sah, war das Blut.
Er hat sie. Es ist dermaßen leicht gewesen, die Notizbücher mit Sokolows Aufzeichnungen zu finden, dass Max einen Moment lang unsicher ist, ob sie wirklich das sind, was er gesucht hat. Aber es kann keinen Zweifel geben. Ein eingehender Blick durch die Lesebrille im Schein der Taschenlampe verschafft ihm letzte Gewissheit. Alles passt zu der Beschreibung, die ihm Mecha Inzunza geliefert hatte: vier in stoffbezogenen Karton gebundene Bücher, die aussehen wie große, stark abgegriffene Geschäftsbücher, voller handschriftlicher Notizen in kleinen, dicht gedrängten kyrillischen Buchstaben. Skizzen von Stellungen, Anmerkungen, Querverweise. Die Berufsgeheimnisse eines Weltmeisters. Die vier Bände lagen gut sichtbar übereinandergestapelt zwischen anderen Papieren auf dem Schreibtisch. Max kann kein Russisch, aber die letzten Notizen im vierten Buch sind trotzdem leicht zu identifizieren: einige Zeilen voll kryptischer Kürzel – Фb4, Лg2, KpxПd3 – neben einem Ausschnitt aus der aktuellen Prawda mit einem Artikel über eine der von Sokolow und Keller in Sorrent gespielten Partien.
Max packt die Bände – das Buch, wie Mecha sie nennt – in den Rucksack, setzt ihn auf, tritt auf den Balkon hinaus undschaut hinauf. Das Seil hängt noch. Er zieht daran, um sich zu vergewissern, dass es hält, und umklammert es, um den Aufstieg in Angriff zu nehmen. Doch schon mit dem ersten Klimmzug ist ihm klar, dass das hier über seine Kräfte gehen wird. Vielleicht könnte er es bis zum Dach schaffen, aber das Gesims mit der Regenrinne, an der er sich beim Herunterklettern Knie und Ellbogen aufgeschürft hat, wäre schwerlich zu überwinden. Er hat sich ganz einfach überschätzt. Oder die Kraft seiner Muskeln. Ein Augenblick der Schwäche, und er stürzt in die Tiefe. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, rückwärts die Sprossen hinunterzusteigen, im Dunkeln, ohne genau zu sehen, wohin er die Füße setzt.
Diese Erkenntnis versetzt ihn in Panik, und ihm wird schlagartig der Mund trocken. Einen Moment lang verharrt er noch, das Seil in den Händen. Unfähig, sich zu entschließen. Dann lässt er das Seil los und gibt sich geschlagen. Sieht ein, dass er sich selbst auf den Leim gegangen ist. Seinem übersteigerten Selbstvertrauen, das die unbestreitbaren Zeichen von Alter und Verschleiß nicht wahrhaben will. Auf diesem Wege wird er niemals zurück aufs Dach gelangen, das weiß er jetzt.
Denk nach, sagt er sich verzagt. Denk gut nach, und zwar schnell, sonst kommst du hier nicht heil heraus. Er lässt das Seil einfach da hängen – von unten kann er es nicht lösen –, und geht zurück ins Zimmer. Es gibt nur einen Ausgang, und diese Einschränkung hilft ihm, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. Vor allem Vorsicht ist jetzt angebracht, ermahnt er sich. Und Glück. Alles hängt davon ab, wie viele Personen sich in dem Gebäude aufhalten und wo genau. Ob der Wachmann, den die Russen im Parterre zu postieren pflegen, auf seiner Runde gerade zwischen Sokolows Suite und dem Ausgang zum Garten ist oder nicht. Max bewegt sich so geräuschlos wie möglich, indem er die Ferse seiner Gummisohlen zuerst aufsetzt und dann sachte den Fuß abrollt,durchquert das Zimmer, schlüpft hinaus und schließt leise die Tür hinter sich. Im Flur brennt Licht, der lange Teppich, der bis zum
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