Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
hat und die ihm auch bei Tageslicht weiter durch den Kopf spukt.
Endlich scheint er zu sich zu kommen und geht ein paar Schritte durch das bescheidene Zimmer, das in einem Winkel im Erdgeschoss der Villa liegt. Er wirft noch einen Blick durchs Fenster auf Sorrent und wäscht sich dann im Bad das Gesicht. Nach dem Abtrocknen betrachtet er sich misstrauisch, als prüfte er, wie weit das Alter in der letzten Zeit fortgeschritten war, oder als forschte er in seinen Zügen nach jemandem aus längst vergangener Zeit. Wehmütig betrachtet er sein silbergraues Haar, das sich zu lichten beginnt, die vom Leben und von der Zeit gezeichnete Haut, die Falten auf der Stirn und an den Mundwinkeln, die am Kinn sprießenden weißen Haare, die schlaffen Lider, die den lebhaften Blick verdüstern. Dann klopft er sich auf den Bauch – den Löchern seines Gürtels sind die Spuren der Schnalle anzusehen, die diese im Zuge wiederholter Erweiterungen hinterlassen hat – und wiegt missmutig den Kopf. Er schleppt zu viele Jahre und zu viele überflüssige Kilos mit sich herum, gesteht er sich ein. Überflüssiges Leben vielleicht auch.
Er tritt auf den Flur hinaus, lässt die Tür zur Garage hinter sich und strebt auf das Wohnzimmer zu. Dort ist alles ordentlich und sauber, das Mobiliar mit weißen Tüchern gegen Staub geschützt. Die Lanzas sind in den Urlaub nach Salerno gefahren. Das bedeutet vollkommene Ruhe für Max, der lediglich das Haus zu hüten, dringende Post nachzusenden und den Jaguar, den Rolls-Royce und die drei Oldtimer des Hausherrn in Schuss zu halten hat.
Gemächlich, noch immer grübelnd, geht er zum Barschrank und gießt sich einen Fingerbreit Rémy Martin in ein geschliffenes Kristallglas. Er nippt mit zusammengezogenen Brauen. Für gewöhnlich trinkt Max wenig. Sein Leben lang, selbst in den rauen Jahren seiner frühen Jugend, hat er geistige Getränke stets nur in Maßen genossen – man könnte es Vorsicht nennen, oder Vernunft – und es somit geschafft, sich den Alkohol nicht zum unberechenbaren Feind, sondern zum nützlichen Verbündeten zu machen, ob von ihm selbst oder anderen getrunken; zu einem hilfreichen Werkzeug seines halbseidenen Gewerbes oder seiner verschiedenen Gewerbe, das je nach Einsatzbereich so wirkungsvoll sein kann wie ein Lächeln, ein Faustschlag oder ein Kuss. Und jetzt, da der unvermeidbare Verfall bereits eingesetzt hat, bringt ihm ein kleiner Schluck, ein Glas Wein oder Wermut oder auch ein gut gemixter Negroni, Herz und Hirn jedenfalls immer noch auf Trab.
Als er ausgetrunken hat, streift er ziellos durch das verwaiste Haus. Weiterhin kreisen seine Gedanken um das Thema, das ihn schon seit gestern beschäftigt. Aus dem Radio am anderen Ende des Flurs ertönt Resta cu’mme , und die Stimme der Sängerin klingt, als erlitte sie den besungenenSchmerz tatsächlich. Geistesabwesend bleibt Max einen Moment stehen und hört zu. Dann kehrt er in sein Schlafzimmer zurück, zieht die Schublade auf, in der er seine Bankunterlagen aufbewahrt, und prüft seinen Kontostand. Seine wenigen Ersparnisse. Für das Nötigste, überschlägt er, würde es reichen. Das Minimum an Logistik. Und da ihm die Idee immer besser gefällt, öffnet er den Kleiderschrank, unterzieht seine Garderobe einer eingehenden Prüfung und geht dann in das Schlafzimmer seines Dienstherrn. Sein Schritt ist leicht und locker. Derselbe federnde, sichere Schritt von vor Jahren, als das Leben noch ein gefährliches, aufregendes Abenteuer war, eine ständige Herausforderung an seine Besonnenheit, seine Gerissenheit und seine Intelligenz. Er hat endlich einen Entschluss gefasst, und das vereinfacht die Sache. Indem sich Vergangenheit und Gegenwart in einer erstaunlich schwungvollen Schleife verbinden, sieht mit einem Mal alles ganz simpel aus. In Doktor Hugentoblers Schlafzimmer sind die Möbel und das Bett mit Schutzhüllen versehen, und durch die Vorhänge sickert ein goldener Schimmer. Als er sie zurückzieht, wird das Zimmer vom Licht durchflutet und gibt die Sicht frei auf die Bucht, die Bäume und die an den Berghang gebauten Nachbarvillen. Max geht zur Ankleide, holt einen Gucci-Koffer aus dem obersten Fach, legt ihn offen aufs Bett und nimmt dann, die Hände in die Hüften gestützt, den gut bestückten Kleiderschrank seines Chefs in Augenschein. Doktor Hugentobler und er haben ungefähr denselben Brustumfang und dieselbe Kragenweite, also wählt er ein halbes Dutzend Seidenhemden und zwei Jacketts. Schuhe und Hosen
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