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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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fix und fertig.«
    »Wegen seiner Aufdringlichkeit?«
    »Und wegen der Streitereien und der
Drohungen. Ihr Leben war ein einziger Albtraum, aber sie freute sich auf San
Francisco, auf ein bisschen Ablenkung — Einkaufen, Theater, Essengehen.«
    »Um wie viel Uhr haben Sie mit ihr
gesprochen?«
    »Ich glaube, so um neun. Jedenfalls
noch nicht sehr spät. Isabelle war eine Nachteule, aber sie wusste, dass ich
normalerweise um zehn im Bett lag. Dass etwas nicht stimmte, merkte ich erst,
als Don Seeger rüberkam: Er meinte, sie seien besorgt, weil Isabelle nicht
aufmachte. Der Spion sei abmontiert und das Loch sehe versengt aus. Ich warf
mir einen Morgenrock über, nahm meinen Schlüssel und ging mit ihm rüber zum
Haupthaus. Wir nahmen die Hintertür und fanden Isabelle in der Diele. Ich war
wie erstarrt. Völlig betäubt. Gefroren. Es war furchtbar, die schrecklichste
Nacht meines Lebens.« Ich sah zum ersten Mal Tränen in ihren Augen, und ihr
Gesicht war schmerzverzerrt. Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch
und schnäuzte sich. »Entschuldigung«, murmelte sie.
    Ich musterte sie einen Moment. »Und Sie
glauben also, dass er sie erschossen hat?«
    »Ohne jeden Zweifel. Ich weiß nur
nicht, wie Sie das beweisen wollen.«
    »Ich auch nicht«, sagte ich.
    Es war 14 Uhr 34, als ich mich von
Simone verabschiedete und zu meinem Wagen zurückging. Vom Meer her zog Nebel
auf. Das Nachmittagslicht war schon dämmrig grau, und die Luft war kalt. Mich
überkam ein unbehagliches Gefühl, als ich am Haupthaus vorbei musste. Ich warf
einen raschen Blick auf die Fenster zur Hofseite. Im Wohnzimmer brannte Licht,
während oben alles dunkel war. Niemand schien mich zu bemerken. Der BMW stand
noch am selben Platz. Der Lincoln war weg. Ich schloss meinen Wagen auf und
rutschte auf den Sitz. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss und musterte
noch einmal das Haus.
    Auf dieser Seite hatte das Obergeschoss
eine Loggia, deren rotes Ziegeldach auf einer Reihe weißer Säulen ruhte. Ein
Klettergewächs hatte sich die Stützen emporgerankt und zog sich die überhängende
Dachkante entlang, filigranes Grün mit weißen Blüten, wahrscheinlich
wohlduftend. Der Schatten des Balkons zerschnitt die Eingangstür in zwei
Hälften, und die Sicht wurde zudem durch das Geäst der immergrünen Eichen
behindert, die sich in dem mauerumfriedeten Vorgarten drängten. Da sich die
Zufahrt in einem steilen Bogen hinaufzog, war das Haus selbst von der Straße
unten nicht sichtbar. Ein Passant hätte vielleicht jemanden kommen oder gehen
sehen können, aber wer war schon nachts um halb zwei unterwegs? Teenager
vielleicht, auf dem Heimweg von einer abendlichen Unternehmung. Ich fragte
mich, ob es an dem bewussten Abend vielleicht ein Konzert oder ein Theaterstück
gegeben hatte, irgendeine Wohltätigkeitsveranstaltung, die die Bewohner der
Gegend bis nach Mitternacht hätte aus dem Haus locken können. Ich würde noch
einmal die Zeitungen durchsehen müssen. Isabelle war in der Nacht nach
Weihnachten erschossen worden, was die Chancen nicht gerade erhöhte. Die
Tatsache, dass sich nie jemand gemeldet hatte, machte die Existenz eines
Augenzeugen ziemlich unwahrscheinlich.
    Ich ließ den Wagen an, legte den
Rückwärtsgang ein und bog scharf nach links, damit ich die Ausfahrt vorwärts
nehmen konnte. David Barney hatte behauptet, zur Tatzeit eine nächtliche
Jogging-Runde gedreht zu haben. Joggen um halb zwei Uhr morgens, in einer
stockfinsteren Gegend. Horton Ravine war weitestgehend ländlich — unbeleuchtete
waldige Straßenabschnitte und Gehwege. Niemand konnte seine Aussage bestätigen,
aber es konnte sie auch niemand widerlegen. Es erleichterte die Sache nicht
gerade, dass die Polizei bislang nichts zu Tage gefördert hatte, was Barney in
irgendeiner Weise mit dem Tatort in Verbindung gebracht hätte. Keinen Zeugen,
keine Waffe, keine Fingerabdrücke. Wie wollte Lonnie den Kerl drankriegen, wenn
er keinerlei Munition hatte?
    Ich ließ den VW die Zufahrt
hinunterrollen und bog links ab. Ich hielt ein Auge auf den Meilenzähler und
das andere auf die Straße und fuhr an etlichen Häusern vorbei, bis ich sah, was
ich suchte — das Haus, das David Barney gemietet hatte, nachdem er bei Isabelle
ausgezogen war. Es war das architektonische Äquivalent zu einem Zirkuszelt:
weißer Gussbeton, mit einem Dach aus keilförmigen Teilen, das sich von einem
Mittelpfeiler nach außen spannte. Jedes Dreieck wurde von drei bunt
gestrichenen Metallstützen

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