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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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demonstrierten. Aber vielleicht war ja
genau das der Fall.
    Ich parkte auf einem Asphaltstreifen
neben dem Haus, ging zum Eingang, klingelte und wartete. Ich hatte mit einem
Dienstmädchen gerechnet, aber Mrs. Weidmann öffnete mir selbst. Sie war wohl in
den Siebzigern und trug einen flotten schwarzen Velours-Jogginganzug und
Rockport-Laufschuhe.
    »Mrs. Weidmann? Ich bin Kinsey
Millhone«, sagte ich, während ich ihr höflich die Hand hinstreckte.
    Sie schien durch meine Geste völlig aus
dem Konzept, und es verging ein peinlicher Moment, ehe sie mir schließlich die
Hand gab. Da lag etwas in ihrem Zögern — Missfallen oder Ziererei — , das mich
innerlich die Stacheln aufstellen ließ. Ihr Haar war eine steife, platinblonde
Kappe. Der Mittelscheitel teilte es vorn in zwei starre, widderhornähnliche
Kringel. Sie hatte Tränensäcke und Hängelider, was bewirkte, dass die Iris nur
noch als Andeutung von Blau erkennbar war. Ihre Haut war pfirsichfar-ben, ihre
Wangen leuchteten pink. Sie sah aus, als hätte sie sich gerade erfolglos einem
Stress-Test unterzogen, aber bei näherem Hinsehen erwies sich, dass sie
lediglich Make-up und Rouge in einem für ihren Typ viel zu intensiven Ton aufgelegt
hatte.
    Sie starrte mich an, als wartete sie
darauf, dass ich ihr etwas aufzuschwatzen versuchte. »Worum ging es doch
gleich? Ich fürchte, es ist mir entfallen.«
    »Ich arbeite für Lonnie Kingman, den
Anwalt von Kenneth Voigt im Prozess gegen David Barney.«
    »Ach, ja! Natürlich. Sie wollten mit
Peter sprechen, wegen dieser Mordgeschichte. Schrecklich. Sagten Sie nicht,
dieser Mann sei gestorben? Wie hieß er doch gleich, dieser Detektiv...« Sie
tippte sich mit den Fingern auf die Stirn, als wollte sie ihren Denkapparat
stimulieren.
    »Morley Shine«, sagte ich.
    »Richtig.« Sie senkte die Stimme. »Ein
fürchterlicher Mensch. Ich konnte ihn gar nicht leiden.«
    »Ach«, sagte ich, innerlich in
Verteidigungsstellung gehend. Ich hatte Morley immer für einen guten Detektiv
und außerdem für einen netten Menschen gehalten.
    Sie rümpfte die Nase, und ihre
Mundwinkel verzogen sich nach oben. »Er roch so merkwürdig. Ich bin sicher, der
Mann hat getrunken.« Ihre Miene war ein festgefrorenes gequältes Lächeln
tiefster Missbilligung. Das Alter spielt dem menschlichen Gesicht böse
Streiche: Alle unsere unterdrückten Gefühle kommen zum Vorschein und erstarren
zu einer Maske. »Er war mehrmals hier und hat uns lauter alberne Fragen
gestellt. Ich hoffe, Sie haben das nicht auch vor.«
    »Ich werde Sie ein paar Dinge fragen
müssen, aber ich denke, ich werde Ihnen nicht allzu sehr zur Last fallen. Darf
ich reinkommen?«
    »Natürlich. Entschuldigen Sie meine
schlechten Manieren. Peter ist im Garten. Wir können ja draußen plaudern. Ich
wollte gerade los, um meine tägliche Runde zu gehen, als Sie geläutet haben,
aber das hat auch noch Zeit bis gleich. Tun Sie etwas für Ihre Fitness?«
    »Ich jogge.«
    »Joggen ist ganz schlecht. Diese harten
Stöße sind Gift für die Knie«, sagte sie. »Gehen ist das einzig Wahre. Ich bin
bei Doktor Julian Clifford... Kennen Sie ihn?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ein fantastischer Orthopäde. Und
außerdem ein Nachbar und sehr guter Freund von uns. Ich weiß gar nicht, wie oft er mir erklärt hat, was diese Leute anrichten, die meinen, sie müssten
unbedingt joggen. Einfach absurd.«
    »Ach«, sagte ich kleinlaut.
    Sie redete im selben Tonfall weiter,
argumentierte, obgleich ich ihr gar nichts entgegensetzte. Ich hatte nicht die
Absicht, mein Fitness-Programm wegen einer Person zu ändern, die der Meinung
war, dass Morley gestunken hatte. Ihre Schuhe machten keinerlei Geräusch, als
wir durch die marmorgeflieste Diele und den Gang zu den hinteren Räumen gingen.
Während das Haus von außen streng im Ranch-Stil der fünfziger Jahre gehalten
war, herrschte innen orientalisches Gepränge: Perserteppiche,
Seiden-Wandschirme, üppig verzierte Spiegel, eine schwarze, mit Perlmutt
eingelegte Lackkommode. Zwei identische Cloisonné-Vasen, groß wie
Schirmständer. Viele Dinge traten paarweise auf und flankierten irgendeine
groteske Scheußlichkeit.
    Ich folgte ihr durch die Küche und zur
Hintertür hinaus auf eine Betonterrasse, die sich über die gesamte Breite des
Hauses zog. Vier flache Stufen führten hinunter zu einem gepflasterten Weg
durch einen kleinen Ziergarten. Weiter hinten sah ich ein waldiges Stück,
gesprenkelt mit Giftpilzen, die teils einzeln, teils in Hexenringen

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