Drop City
Strömung schaukeln, bis sie das Gewicht ausbalanciert und die Paddel eingetaucht hatten, so daß der Bug sich stromaufwärts wandte. »Seid vorsichtig!« rief sie, und sie wollte gar nicht an ein Kentern denken, an den eisigen, raschen Griff des Wassers. Sie winkte, und Star, die heftig gegensteuerte, um das Kanu gerade auszurichten, ließ ihr Paddel kurz los und hob die Hand, dann wurden sie kleiner und immer kleiner, bis das Land sie verschluckt hatte.
Pamela blieb lange Zeit am Ufer stehen und starrte auf die Bäume, die alle gleich aussahen, auf das Wasser, das sich immer wieder die gleichen Wege suchte, und sie fühlte etwas, was sie noch nie zuvor gefühlt hatte: Immanenz. Eine Kraft, die ihr den Verstand raubte und sie zu einem Nichts reduzierte. Sie war nicht Pamela Harder, die da am Rand des Thirtymile River stand. Sie war auch keine frisch vermählte und frisch verlassene Braut. Sie war gar nichts. Der Himmel türmte sich mit einem Zischen über ihr auf, das an das Schließen einer Luftschleuse erinnerte, Wolken zogen herauf und verdunkelten die Sonne, und sie stand immer noch dort. Sie hatte nie im Leben Drogen genommen, hatte alles geglaubt, was sie über die Schrecken der Rauschgiftsucht gehört und gelesen hatte, über Leute, die unter dem Einfluß von LSD in die Sonne starrten, bis ihre Netzhaut verschmort war, die sich selbst verstümmelten oder von Hochhäusern sprangen, weil sie glaubten, fliegen zu können, aber als Star die beiden dünnen weißen Röllchen mit Marihuana auf den Picknicktisch gelegt hatte, dachte sie sich: Wieso nicht? Wenn Star es tun konnte, wenn Merry es konnte, wieso dann nicht sie? Keine Erkenntnis ist ihren Namen wert, wenn sie nicht der eigenen Erfahrung entstammt.
Sie hätte immer dort stehenbleiben können, stocksteif und innerlich spürend, wie alle losen Enden sämtlicher Dinge sich zu einem gewaltigen Bündel vereinigten, hätte dort zu Stein werden können wie in den alten Märchen, doch ein Möwenpaar mit scharfem Blick holte sie da wieder heraus. Die Vögel zogen einen tiefen Bogen, um sie zu begutachten, um den Tod an ihr zu schnuppern und seine Spuren in ihren Handlinien und unter ihren Fingernägeln verewigt zu sehen, dann flatterten sie entsetzt kreischend davon. Sie betrachtete ihre Hände, die aus den zerschlissenen Ärmeln des Sweatshirts heraushingen. Sie waren kalt. Genau das: kalt. Ein Windstoß beutelte die Blätter, sie erschauerte und blickte über die Schulter zum Blockhaus am Hang. Es würde unendlich lange dauern, bis sie es nach oben schaffte, sie durchmaß unsichtbare Ringe und Trapeze, die vor ihr auftauchten und wieder verschwanden, glitt in Zeitlupe am Tisch vorbei und sah versonnen auf die Brotkrümel und Trinkbecher, die leere Weinflasche und den Aschenbecher mit dem drei Zentimeter langen Stummel des Marihuanajoints, der quer darüber gelegt war wie ein verhängnisvolles Omen, dann aber hatte sie die Eingangstür erreicht, der Himmel schnappte wieder auf, und der Donner begann zu grollen.
Drinnen war alles vertraut, alles war in Ordnung. Hier gab es Routine, Richtlinien, an die man sich halten konnte, und die hatten nichts zu tun mit abgeschabten Fellen oder Hippiedrogen oder dem auseinanderfallenden Himmel. Sie schürte das Feuer. Zündete sich eine Zigarette an. Goß frisches Wasser in den heruntergekochten Fleischtopf und würfelte Gemüse auf dem Schneidbrett. Ein Blitz erhellte den Raum, und der Regen fegte aus den Wäldern heran und ließ den Staub vor dem Haus mit heftigen Nadelstichen aufstieben. Star hatte den Grasjoint so lässig angezündet wie eine Zigarette und an Merry weitergereicht, die den feinen, blassen Qualm eingezogen hatte, der nach Duftkerzen roch, nach Weihrauch und, wie hieß es noch – nach Myrrhe –, und dann hielt Merry ihr das Ding hin. Sie hob es an die Lippen, inhalierte, und es war nichts anders als eine Marlboro, außer daß es nach nichts schmeckte. »Weißt du was?« sagte Star. »Du hast keine Ahnung, was Vögeln heißt, wenn du es nicht schon mal damit gemacht hast. Ehrlich. Es ist, als ob alle Nervenenden zugleich schmurgeln, und deine Haut, deine Haut brennt einfach darauf, von einem Mann berührt zu werden.«
Irgendwann ging sie hinaus in den Regen und holte den Rum und die Becher und den Ascher mit dem nassen Marihuanastummel herein, und irgendwann legte sie den Joint zum Trocknen auf den Ofen und schöpfte sich einen Napf mit Bäreneintopf. Sie hatte Hunger, mehr Hunger, als sie je im Leben
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