Drop City
hatte sie noch nicht gehört. Sie wußte, daß der Neffe abgedampft war, und mit ihm diese kleine Barbiepuppe mit den falschen Wimpern, und ein paar von der Kommune nervten Sess seit kurzem – sie wollten ihm bezahlen, was er verlangte, wenn er sie nur mit dem Schlitten nach Boynton brächte, samt ihren Gitarren und allem möglichen anderen Zeug. Und er war auch bereit dazu, warum nicht, Bargeld war Bargeld, aber seine Fallen kamen zuerst, denn wenn man so eine Strecke erst einmal aufgestellt hatte, dann war man infolge sämtlicher moralischer Kräfte des Universums verpflichtet, diese Fallen auch regelmäßig abzugehen, schon um den Todeskampf der Lebewesen abzukürzen, die einem Nahrung und Einkommen sicherten, denn man ließ nichts verkommen, man ließ nie etwas verkommen – das war Verschwendung und damit schlimmer als Sünde; es bedeutete den Tod.
»Das ist ja übel«, sagte Pamela, und so meinte sie es auch. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß ein paar Kilometer weiter jemand wohnte, sie hatte jetzt Nachbarn: Star, Merry, Maya, Reba – Menschen, mit denen sie reden konnte, Frauen, andere Frauen. Im Winter davor hatte sie in einer Stadtwohnung gelebt und in einem Büro mit anderen Menschen gearbeitet. Da gab es Kinos, Geschäfte, Kneipen, Restaurants. Jetzt gab es Pelze, und es gab Sess. Sie war glücklich – doch, das war sie, sie wußte es genau, glücklicher, als sie je gewesen war –, aber die unauslöschlichen Abende stapelten sich bereits, die Abende des Buschkollers, die Abende, an denen Sess nicht genug war, an denen niemand genug sein konnte. Und da gab es noch etwas, was viel größer war als alles andere, ihre Neuigkeit, ihr Geheimnis, und wenn sie Star nicht gehabt hätte, der sie es anvertrauen konnte, wäre sie wahnsinnig geworden, hätte sie es für sich behalten müssen.
Stars Gesicht schwebte neben ihr im Licht der Petroleumlampe, süß und hübsch, makellos, nicht mehr ein Hippiegesicht als ihr eigenes. »Mit den gemeinsamen Mahlzeiten ist da drüben jetzt völlig Schluß«, sagte Star. »Im Gegenteil, sie streiten sich ums Essen.«
»Aber hast du nicht erzählt, daß ihr genug Nahrungsmittel habt, mehr als genug? Ich dachte, Norm hat Grundproviant für sechs Monate gebunkert? Der hat doch mehrere hundert Dollar ausgegeben, hast du gesagt.«
»Es fehlt uns ja auch nichts. Da geht es mehr ums Hamstern, so nennt man das wohl. Die Leute plündern einfach die Speisekammer, holen sich irgendwas raus: Mandeln, Rosinen – das ganze Trockenobst haben sie abgeräumt. Das Milchpulver kannst du genauso vergessen. Und die Schokolade.« Sie zog ein Gesicht, hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Das Mehl ist voll von diesen kleinen schwarzen Punkten – zuerst dachte ich, es wäre Pfeffer, daß vielleicht jemandem aus Versehen beim Panieren des Fischs ein Pfefferstreuer reingefallen ist –, aber in Wirklichkeit ist das Mäusekacke, Millionen von kleinen Kackekügelchen. Und Reba – die scheint sich für die Chefin zu halten, seit Norm weg ist, und sie beruft ständig irgendwelche Versammlungen ein, sie und Alfredo, um, Zitat: ›die Nahrungsmittelsituation anzusprechen‹, aber es kommt nie jemand hin.«
»Dabei haben wir noch nicht mal Weihnachten«, sagte Pamela. Sie wußte nicht, warum sie es gesagt hatte – sie wollte keine Schwarzmalerei betreiben –, aber diese Leute, diese Hippies , mußten allmählich kapieren, worauf sie sich hier eingelassen hatten. Es war wie in der Fabel, die ihre Mutter ihr und Pris als Kinder vorgelesen hatte, von Äsop mußte die gewesen sein, die mit der Ameise und der Grille.
»Ich weiß«, sagte Star flüsternd. »Ich weiß.«
Später, nach einer zweiten Kanne Tee und ein paar Elchsteak-Sandwiches mit Zwiebelscheiben und Meerrettichsauce, die Pamela schnell zubereitet hatte, fragte Star, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn sie die Nacht über dabliebe – das ganze Ding, der ganze Trip da flußaufwärts sei jetzt schlicht zuviel für sie, sie halte das einfach nicht aus, nicht heute abend. Ginge das in Ordnung? Wären es zu viele Umstände? Ach was, sagte Pamela, überhaupt nicht – sie würde ihr gleich hier ein Bett zurechtmachen, in Sess’ alter Koje, und es war doch nicht zu fassen, daß er hier allein geschlafen hatte, auf diesem schmalen kleinen Sims, den ganzen letzten Winter hindurch!
Sie gab ihr eins ihrer Flanellnachthemden und Sess’ Schlafsack mit Eichhörnchenfell sowie freie Wahl bei den Pelzen – sie hatten eine ganze
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