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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Wochentage oder die Kalenderzählung ab Christi Geburt, als hätte das Bedeutung, als wäre es real, als würde Gott existieren und als wäre der Beweis seiner Existenz eine objektive Tatsache. Ihr war das egal. Sie mochte Zahlen und Ziffern, sie wollte wissen, daß es der achtzehnte Dezember Anno Domini neunzehnhundertsiebzig und sechs Uhr fünfundzwanzig war, daß das Thermometer vorhin minus fünfunddreißig Grad Celsius gezeigt hatte – und vielleicht würde sie auch gleich noch mal aufstehen und draußen vor der Tür überprüfen, ob es in der Zwischenzeit noch tiefer gefallen war. Vielleicht. Und vielleicht würde sie ein Tagebuch anlegen, für die ganz einfachen Sachen, nur die Fakten – Tag und Uhrzeit, Temperatur, was sie gegessen hatten, was es am Himmel, auf den Bäumen, auf dem Boden zu sehen gab. Das war ihre Angelegenheit, ihr Ding , wie Star es wohl ausdrücken würde, und wer wollte ihr das verwehren? Nicht Sess. Sess bestimmt nicht. Also sollte er ruhig mitten in der Nacht vom Ticken der Uhr aufwachen. Es würde ihn nicht umbringen.
    Sie wollte eben aufstehen und genau das tun – aufs Thermometer sehen –, als sie draußen einen aufrechten Schatten sah, der sich von den Bäumen trennte und die Uferböschung zum Haus hinaufkam, mit langsamen, ruckartigen Bewegungen wie eine Gestalt aus einem Traum. Pamela hielt sich den Zigarettenstummel an die Lippen, rauchte ihn bis zum Filter herunter und sah gespannt hinaus. Die Gestalt kam näher, sie ging vornübergebeugt, stapfte durch den Schnee, die Gliedmaßen teilten und vereinigten sich, teilten und vereinigten sich, und dann fühlte sie, wie etwas in ihr vor Freude hüpfte: es war Star, die sie besuchen kam und ihre Grübelei unterbrechen würde. Das war ja – wie würde Star sagen? Es war total stark. Es würde eine Party geben.
    Sie war schon an der Tür, noch ehe Star klopfen konnte, weil sie befürchtete, die Freundin könnte die dunklen Fenster sehen und in ihr Hippiecamp zurückgehen. »Na, aber hallo«, begrüßte Pamela sie und zog sie ins Haus hinein, »was für eine Überraschung, was für eine nette Überraschung, und frohe Weihnachten, hab ich dir schon frohe Weihnachten gewünscht?«
    Star nahm die Tasse Tee gern an, die teure Darjeeling-Auslese, die Pamela für Besucher in einer luftdicht verschlossenen Dose aufbewahrte, und Pamela flitzte im Zimmer hin und her, schürte das Feuer, entzündete Lampen, stellte Salzkekse, Käse, Brot, Butter, Mehrfruchtmarmelade samt Löffeln und einem Messer auf den Tisch, dabei redete sie pausenlos, quasselte drauflos, als wäre sie die Gefangene eines Stammes von Taubstummen an einer einsamen Küste gewesen. Es dauerte rund eine Viertelstunde, bis sie sich bewußt wurde, daß Star ihr gar nicht richtig zuhörte. Star sagte nichts oder kaum etwas – antwortete nur mit Ja oder Nein auf den Schwall von Fragen, mit dem Pamela sie überschüttete, nickte oder knurrte oder warf hie und da ein Mh-hm oder ein Ich weiß, was du meinst ein. Endlich nahm sich Pamela zusammen, zwang sich dazu, einen kräftigen Schluck von dem Tee zu nehmen, der auf dem Tisch vor ihr bereits kalt wurde. »Gut«, sagte sie, »gut«, als hätte sie soeben eine Gleichung gelöst, die eine ganze Arbeitsgruppe von Mathematikern wochenlang vor Rätsel gestellt hatte, »warum erzählst du mir nicht einfach mal davon?«
    Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Star nahm sich auch eine. Sie behielten den Tabakgeschmack einen Moment lang auf der Zunge, sahen einander in die Augen und stießen dann gleichzeitig den Rauch aus. »Ist es wegen Marco?« fragte sie in einem langgedehnten Seufzer aus exhaliertem Rauch. »Geht es um ihn? Machst du dir Sorgen seinetwegen?«
    Star zuckte die Achseln. Sie war klein – geradezu winzig, trug sicher Kindergrößen –, und sie hatte nie verlorener und mädchenhafter gewirkt als jetzt, mit ihren ausdruckslosen Augen, ihrem Mittelscheitel und den ordentlich hinter die Ohren gekämmten Haaren, als hätte ihre Mutter sie frisiert. Marco war mit Sess auf der Fallenstrecke unterwegs – er wollte aus der Praxis lernen, deshalb hatte ihn Sess unter die Fittiche genommen –, und sie biwakierten irgendwo, campten draußen im Wald, bei Temperaturen, die mit ziemlicher Sicherheit über Nacht auf minus vierzig und darunter fallen würden. Wahrscheinlich campten sie aber nicht direkt im Freien – Roy Sender hatte an zwei strategischen Stellen entlang der gut sechzig Kilometer langen Fallenstrecke zwei primitive

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