Drop City
spüren wollte.
Zu Heiligabend, gerade als das Licht am Himmel verblaßte, begann es zu schneien. Marco und Jiminy hatten einen Baum gefällt und in der hinteren Ecke des Versammlungsgebäudes aufgestellt, und alle umringten ihn, um ihn mit Gottesaugen aus Garn, kleinen Stückchen Silberfolie, Glasperlen und Papiergirlanden zu schmücken. Dabei tranken sie Rum-Ei-Punsch (aus Rum und Kondensmilch, verquirlt mit Muskatnuß, Zucker und Eipulver). Die Zwölf-Volt-Batterie, frisch aufgeladen in Boynton und mit Iron Steves Schneemobil zurücktransportiert, war an die Anlage im Loft angeschlossen, also gab es sogar Musik, jeder durchwühlte die LP-Sammlung nach seinen Lieblingsplatten, nichts Religiöses, keine Choräle oder Weihnachtslieder, eher mystische Sachen: Ravi Shankar, Mahavishnu John McLaughlin, Coltrane, Rollins, Dylan.
Es gab vier Öfen auf Drop City, einen in jedem der drei fertiggebauten Blockhäuser, dazu den uralten Küchenherd der Marke »Great Majestic«, den sie mit dem Boot flußaufwärts geschleppt hatten, um etwas für die Kommuneküche im Versammlungsgebäude zu haben, und alle vier wurden befeuert. Sie grillten zwei Truthähne und eine Gans, die Sess Harder tiefgefroren im Lebensmittelladen von Boynton für sie besorgt hatte, dazu zwei Tannenhühner, die Marco unter irgendeinem Baum geschossen hatte, mit Kartoffeln, Füllung und Sauce, und für die Vegetarier gab es überbackene Brokkoliröschen, eine fleischlose Lasagne und Rübenmus. Und Kekse. Eintausend Kekse.
Star stand mittendrin, jonglierte mit den Töpfen auf dem Herd, hantierte mit Gemüsemesser, Zwiebelwürfler und Schneebesen, und die Musik durchströmte ihren ganzen Körper, schuf einen neuen Kreislauf, der in Symbiose mit ihrem ursprünglichen lebte, und als ihr jemand einen Joint reichte, nahm sie ihn entgegen, hielt ihn einen Moment lang an die Lippen und reichte ihn wieder zurück. Sie sang vor sich hin, summte und machte eigene Texte für die Melodien, die keine hatten. Die Sauce wurde dicker, der Schneefall ließ nach. Lydia tanzte mit Tom Krishna und Deuce, und Jiminy tanzte mit sich allein, Harmony und Alice verteilten an jeden der achtzehn Bewohner von Drop City selbstgetöpferte Keramiktassen, jede mit einem einigermaßen naturgetreuen Porträt des Beschenkten, dann kam Marco zu ihr und überraschte sie mit einem Paar Ohrringen – Peace-Zeichen, die er aus einem Stück Karibugeweih geschnitzt hatte. Und gerade als sie glaubte, schöner könne es nicht mehr werden, erschien Pamela in der Tür, mit zwei Blechen Obstkuchen und einer Flasche Brandy im Arm.
Es gab eine Plauderei zur Begrüßung, ein Extrateller wurde auf der Sperrholzplatte aufgelegt, mit der sie den Tisch verlängert hatten, das Essen dampfte, der Hund – Freak – wedelte hoffnungsfroh mit dem Schwanz, und dann nahm Star Pamela den Mantel ab und schleuderte ihn zu Mendocino Bill auf das Loft hinauf, denn dort wurden die Mäntel aufbewahrt, anderswo war kein Platz. Pamela sah sich um und verströmte pure Energie, und dann umarmte sie alle, einen nach dem anderen. Sie sah toll aus – gesund und hübsch –, der Wind hatte ihr Gesicht gerötet, ihr honigblondes Haar war in der Mitte gescheitelt und schlängelte sich den Pulli hinunter bis zu den Rentieren, die auf ihren Brüsten tanzten, und sie trug das Perlenstirnband, das ihr Star geschenkt hatte. »Weißt du, wie du aussiehst?« fragte Star und hielt ihr den Joint hin, der eben wieder in ihrer Hand gelandet war.
»Nein, wie denn?«
»Wie ein Hippie.«
»Du meinst, wie eine Hippie braut ?«
Star brauchte eine Minute, um das zu verdauen. »Willst du mich flippen?«
»Wer, ich? Aber nein, nie.«
Sie sah zu, wie Pamela so tat, als würde sie inhalieren, dann nahm Star ihr den Joint wieder ab. »Und wo ist Sess?« fragte sie.
Achselzucken. »Draußen auf der Fallenstrecke. Aber der kommt schon. Würde ich ihm jedenfalls raten.« Sie schüttelte sich das Haar mit einer jähen Geste aus dem Nacken. »Ist schließlich unser erstes Weihnachten. Ich bring ihn um, wenn er nicht hier eintrudelt.«
Der Gedanke kam ihr komisch vor, denn warum sollte er denn nicht eintrudeln? War es so reizvoll da draußen? Soweit Star erkennen konnte, gab es vor den Fenstern nichts als die Nacht und die Kälte und die Hügel, die in die nächsten Hügel übergingen. Hier drinnen spielte das Leben, das einzige Leben kilometerweit. Hier gab es Essen, Musik, Bier, Wein. Es gab Rumpunsch, und es gab Kekse. Gelächter und
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