Druidenherz
öffnen.
Imogen überlegte, ob sie nach Dian rufen sollte. Sehr weit entfernt war er vermutlich nicht, aber wie sollte sie das begründen? In einem leeren Raum Angst zu haben war lächerlich.
Dennoch musste sie sich zwingen, ruhig zu atmen, nicht zu hyperventilieren und nicht um Hilfe zu rufen. Ihr Verstand schien sich ebenso zurückgezogen zu haben wie Dian, denn es nützte nichts, sich einzureden, dass sicher alles in Ordnung war. Dabei war Imogen doch sonst auch nicht so ängstlich. Und ganz wehrlos war sie inzwischen auch nicht mehr – kein Grund also, sich Sorgen zu machen. Dennoch blieb ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengrube.
Imogen versuchte sich durch Träumereien abzulenken, schöne Bilder zu visualisieren und sich an vergangene Erlebnisse zu erinnern. Wie an den noch gar nicht so lange zurückliegenden Tag, an dem sie ihre Prüfungsergebnisse bekommen, ihr Studium mit bestem Ergebnis abgeschlossen und mit Tante Mable gefeiert hatte. Erst waren sie in ein richtig schickes Restaurant gegangen und hatten feinste Speisen genossen, die außergewöhnlich schmeckten, aber zu knapp bemessen waren, um wirklich satt zu werden. Der in ihrem Magen prickelnde Champagner hatte das Hungergefühl allerdings dann doch vertrieben. Wieder zu Hause, hatte sie noch einige Freundinnen angerufen und war irgendwann überglücklich auf der Couch eingeschlafen.
Sie dachte an ihre Studienreisen. Es waren tolle Orte dabei gewesen. Stonehenge natürlich, das Glastonbury-Tor, verschiedene Museen und Plätze in England, Irland und Schottland, an denen bedeutende archäologische Funde ausgegraben worden waren.
So träumte Imogen vor sich hin, und es kam ihr vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, als sich endlich die Tür öffnete.
Imogen hielt die Luft an und spürte, wie sich ihr Körper spannte.
Gwyd trat ein, ein Tablett in den Händen. Stumm stellte er es neben ihrem Lager ab und zog sich in die entgegengesetzte Ecke des Raums zurück. Verborgen in den Schatten, ließ er sich auf dem Boden nieder. Eine vage Silhouette, nur erkennbar, wenn man ganz genau hinschaute. Auch wenn sie sich inzwischen an sein seltsames Aussehen gewöhnt hatte, fiel es ihr noch schwer, ihn nicht anzustarren oder ihm Fragen zu stellen. Die moderne Schönheitschirurgie wäre doch sicher in der Lage, solche Ohren zu korrigieren. Dann müsste er nicht mehr in dieser Abgeschiedenheit leben.
Auf dem Tablett befanden sich Brot, eine dampfende Schale Suppe sowie eine Scheibe Schinken, ein Stückchen Käse, ein kleiner Apfel und ein Schälchen Beeren. Zuerst kostete sie aus dem Schälchen. Die Erdbeeren waren kleiner als die aus dem Supermarkt und erinnerten Imogen an lang zurückliegende Waldspaziergänge, bei denen sie das Glück gehabt hatte, die aromatischen Früchte zu finden. Der Käse dagegen war der gleiche strenge Ziegenkäse, den sie bereits gekostet hatte.
Aber sie hatte Hunger, und zusammen mit der Suppe und dem Brot sowie den Früchten als Dessert schmeckte er ihr dann doch.
Imogen überlegte, woher das Essen stammte. Besonders die Beeren mussten ja von irgendwoher kommen, während die Äpfel, der Käse und der Schinken problemlos wochenlang lagern konnten. Die Waldbeeren aber schmeckten so frisch, dass sie bestimmt nicht aus dem Tiefkühler kamen. Und sie waren ein kleiner Ersatz für die fehlenden Süßigkeiten. Imogen liebte Naschereien, in ihrer Handtasche und in ihrer Schreibtischschublade bewahrte sie stets Schokoladenkekse, Fruchtgummischlangen, saure Drops, Schokoriegel oder Ähnliches auf. Nervennahrung nannte sie es immer.
Die Mahlzeiten hier waren dagegen einfach und ursprünglich. Die Suppe schmeckte wie selbstgekocht und nicht, als sei sie aus gepresstem Pulver angerührt worden. Wer wohl der Koch war? Noch mehr interessierte es sie, wie die Leute hier unten beliefert wurden, denn jeder Weg war ein Weg an die Oberfläche. Und selbst wenn es nur einen Lastenaufzug gab, der zu schmal war, um selbst damit hochzufahren – vielleicht konnte sie so eine Nachricht nach oben schmuggeln.
»Möchtest du noch etwas Brot?«, fragte Gwyd unvermittelt. Mal wieder hatte Imogen nicht bemerkt, wie er sich ihr genähert hatte.
»Nein danke«, sagte sie, und der kleinwüchsige Mann nahm das rustikal aussehende Holztablett von ihrem Schoß.
Sie blickte Gwyd hinterher, während er lautlos durch die hintere Tür verschwand.
Erst nach mehreren Stunden erschien Dian. In ihrer Einsamkeit wusste Imogen nicht, ob wirklich so viel Zeit vergangen war.
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