Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)

sie das Amulett angelegt hat, ist das Wurzelstück sofort verdorrt. Wir vermuten, der Vogt hat das andere Wurzelstück in der Kirche in Dornum aufbewahrt und mit einem Fluch belegt. Er höhnte, sie könne ja in die Kirche kommen; wenn sie ihm den Lösespruch für den Südstein sage, nehme er ihr das Kreuz ab und gebe ihr das Amulett zurück. Er hatte wohl gehofft, dass ein schleichender Tod sie umstimmen würde. Doch Lara hat nicht klein beigegeben. Und so wurde sie von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr schwächer.“
    „Aber mein Vater …“, begann Julie.
    „Er wusste nichts davon, Lara wollte es so. Sie wollte auch dich unbedingt zur Welt bringen. Ihr war klar, dass ihre Kraft bald verbraucht sein würde, auch ohne die Schwangerschaft. Und so musste sie deinen Vater wenigstens nicht ganz allein lassen.“ Dendra machte eine Pause. Erschöpft sank sie zurück in das Moos. Julies Augen weiteten sich, als ihr klar wurde, was das alles bedeutete: Es war gar nicht ihre Schuld gewesen! Sie hatte ihre Mutter gar nicht umgebracht!
    Doch die Erleichterung füllte nur kurz ihre Gedanken aus. Schon im nächsten Moment wurde sie durch den Wunsch nach Rache ersetzt, Rache an dem Vogt für alles, was er Julies Mutter angetan hatte. Als Hüterin würde sie ihm früher oder später gegenüber stehen, und dann würde er bezahlen. Hatte Julie bis hierher noch Zweifel gehabt, ob sie es ohne den Trank versuchen sollte, so waren diese jetzt verflogen. Sie musste es einfach probieren!
    Die Dryade öffnete die Augen. „Es ist viel passiert, du hast über so vieles nachzudenken. Zumindest hast du jetzt wieder mehr Familie als nur deinen Vater; willkommen in der Gemeinschaft der Dryaden“, sagte Dendra und streckte Julie die geöffneten Arme hin.
    Verunsichert blickte Julie zu Chris. Chris nickte. Julie rutschte näher an das Lager heran und ließ sich zum zweiten Mal an diesem Tag von Dendra in den Arm nehmen. Der Morgen mit der Prüfung schien Jahrhunderte zurückzuliegen. Dendra roch nach frischem Holz und nach Waldmeister. Für eine Weile war Julie einfach nur ein Kind, das weinte, und Dendra die Mutter, die Julie nie gehabt hatte.
     

Wurzeln
     
    Als Julie sich beruhigt hatte, ging es Dendra ebenfalls wieder besser. „Auch du kannst das Baum-Ritual durchführen. Wenn du ein Stück der Wurzel deines Baumes bei dir trägst, wirst du kräftiger und schneller sein. Du musst nur eine Weile in der Nähe des Baumes deiner Ahnfrauen sein, dann kannst du ein Stückchen Wurzel ausgraben. Der Baum erkennt, dass du nicht geweiht bist, und zeigt dir, welches Stück Wurzel das Richtige ist.“
    „Wie kann ein Baum mir etwas zeigen?“, fragte Julie.
    Dendra lächelte. „Bäume können noch viel mehr als das. Der Baum zeigt es dir, indem die Stelle, an der du graben musst, anfängt zu leuchten. Heute Abend ist es günstig, denn wir haben fast Neumond; da ist das Leuchten gut zu sehen.“
    „Danke, Dendra, aber woher weiß ich, welcher Baum meiner ist?“
    „Dein Baum ist die Eiche von Myra. Sie ist aus dem Baum entstanden, und deine Mutter entstammt ihm zur Hälfte, so ist es auch dein Baum. So lange jemand aus der Linie am Leben ist, lebt auch der Baum. Solange der Baum lebt, leben die aus seiner Linie.“ Dendra griff in die Tasche ihres feinen Kleides. Ein Anhänger kam zum Vorschein. Julie dachte zuerst, er sei aus Glas, aber als sie den Anhänger anfasste, fühlte sich das durchsichtige Material anders an.
    Dendra schien Julies Zögern zu bemerken, denn sie erzählte unaufgefordert: „Er ist aus Bergkristall, bis auf den Deckel. Der ist aus Silber.“
    Ein fein ziselierter Deckel schloss ein kurzes fingerdickes Gefäß ab, das sich erstaunlicherweise warm anfühlte. In den Deckel war eine Öse eingearbeitet, mit der das Gefäß an einem ledernen Band hing.
    „Der Deckel lässt sich nur ein Mal öffnen und schließen. Wenn du es falsch machst, musst du dir erst ein neues Gefäß bei mir holen. Öffne den Deckel erst, wenn das Wurzelstück ausgegraben ist, und schließe ihn nach dem Einlegen der Wurzel. Hast du alles verstanden?“
    Julie nickte.
    „Ich muss mich jetzt noch ausruhen, ich hoffe, deine Frage ist beantwortet“, sagte die Dryade freundlich und schloss die Augen.
    „Danke“, sagte Julie leise.
    Chris nickte ihr zu. „Vertraue ihr und hole dir ein Stück von der Wurzel; wer weiß, wozu es gut ist.“
    Alleine wanderte Julie durch den Wald zurück, an Urs vorbei, der diesmal keine Anstalten machte, sie aufzuhalten. Julie