Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)

Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)

Titel: Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
Vom Netzwerk:
sprang mit einem Satz hoch in den Stand. Wie lange hatte sie an dem Baum gelehnt? Vor Julie stand eine Baumfrau, oder besser gesagt die Karikatur einer Baumfrau, jedenfalls wenn man Dendra oder Ria als Maßstab nahm. Julie wusste sofort, dass es sich um Myra handeln musste. Die Dryade war ergraut; ihre Haut war faltig wie die eines übriggebliebenen Boskop-Apfels. Wo Ria und Dendra in zarte, durchscheinende Gewänder gekleidet waren, hatte Myra stattdessen grüne und graue Flatterstücke mit Hanfseilen befestigt. Die nackten Füße waren schmutzverkrustet und verhornt. Die viel zu langen Fingernägel waren an einigen Fingern abgebrochen und sahen aus, als ob Myra gerade Trüffel ausgegraben hätte. Der Blick der grünlichen Augen wirkte trüb, als sei Julie nur eine weitere von vielen Halluzinationen, welche Myra grausam die Rückkehr der toten Tochter vorgetäuscht hatten. Der Blick wurde erst wacher, als Julie zu sprechen begann: „Du musst Myra sein, ich freue mich, dich kennen zu lernen“, sagte Julie höflich. Statt Verachtung für die zerzauste Gestalt fühlte sie Mitleid mit ihr. Wer konnte nachempfinden, wie es war, ein Kind zu verlieren?
    „Du sprichst – also bist du keine Illusion. Die Bilder von Lara haben noch nie gesprochen“, flüsterte die Alte.
    „Ich bin nicht Lara, ich bin Julie, ihre Tochter“, erklärte Julie.
    „Das kann nicht sein. Meine Lara hätte keinem Kind einen Namen ohne ein ‚R’ gegeben. Es ist so Brauch. Warum willst du mich täuschen? Willst du mich töten? Dann töte mich. Ich bin schon tot, du kommst zu spät“, keifte die Alte.
    „Ich bin es doch! Ich will dir nichts tun! Myra, mein Name ist Sarah Julie Denes, aber alle nennen mich Julie. Lara ist bei meiner Geburt gestorben.“
    Myra sah Julie an. Julie konnte ganz genau fühlen, dass sie mit dieser Dryade verwandt war; musste denn Myra das nicht auch spüren? Spürte man irgendwann gar nichts mehr, wenn man immer traurig war? Die Alte war in die Knie gesunken und verbarg ihr Gesicht in den schrumpeligen Händen. Vorsichtig kam Julie näher und zupfte ein welkes Blatt aus dem weißen Haar. Myra begann zu schluchzen; Julie nahm die Fremde vorsichtig in den Arm und strich ihr beruhigend über den dürren Rücken. „Es ist gut, Großmutter, es ist gut“, sagte Julie immer wieder, bis das Weinen schließlich abebbte. Die Dryade wischte sich mit ihren schmutzigen Fingern die Tränen aus dem Gesicht, eine feuchte, fast saubere Rinne auf beiden Wangen hinterlassend. Sie zupfte entschlossen und zum ersten Mal seit Jahren ihre Fetzen gerade und nahm Julie an die Hand. „Komm, Kindchen, ich will dich deinem Baum vorstellen“, sagte sie unvermutet energisch.
    Sie redeten lange, und es schien, als ob die Kruste auf Myras Seele, die der viel zu frühe Tod ihrer geliebten Tochter hinterlassen hatte, unter jedem Wort von Julie bröckeliger wurde.
    „Myra, Dendra sagte etwas von einem Ritual“, erkundigte sich Julie irgendwann und hob das Quarzröhrchen in den dämmrig schimmernden Lichtschein, der direkt vom Stamm der Eiche auszugehen schien. Myra berührte die Rinde, und der Schein verstärkte sich. Die Alte besah das Gefäß, als müsse sie sich mühsam erinnern. Julie begann sich Sorgen zu machen; was, wenn Myra sich nicht mehr erinnerte oder ihr verbot, ein Stück der Wurzel auszugraben? Doch ihre Angst war unbegründet. Ein Ausdruck des Wiedererkennens huschte über Myras Gesicht. „Das Ritual, richtig, du hast es als Kind nicht vollzogen. Es ist Neumond, der Zeitpunkt ist gut gewählt“, sinnierte Myra. “Bist du denn bereit?“, fragte die Alte Julie dann.
    Julie nickte stumm. Der Nebel zog in dichten Schwaden über den welken Eichen- und Birkenblättern auf dem Boden dahin, doch Julie fühlte keine Furcht. Sie spürte es mit jeder Faser, dieser Wald war ihr freundlich gesonnen. Myra berührte den Stamm erneut. Ohne Licht, im Dunkeln auf Händen und Füßen kriechend, umrundeten die beiden den Stamm. Eine Stelle erregte Julies Aufmerksamkeit, sie schien ungewöhnlich. Julies Herz schlug schneller: Die Stelle leuchtete! Vorsichtig, Myra auf den Knien neben sich hockend, grub Julie allein in Richtung des Lichtes. Es leuchtete abwechselnd stärker und schwächer, verlosch aber nie ganz. Je tiefer sie kam, umso deutlicher wurde der Schein. Schließlich lag es vor ihr, ein schmales Stück Wurzel mit pulsierendem Licht. Julie befreite es sanft streichend von Erde. Mit einem kleinen Zittern löste sich das Stück von seiner

Weitere Kostenlose Bücher