Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Anouks mitleidige Seitenblicke auf die zierliche Julie in ihrer Mitte sicher nicht ganz unschuldig waren. Musik begann zu spielen. Kannte sie das Lied vom Mittelaltermarkt?
Chris, Anouk und Julie reihten sich in die Prozession ein. Anouk ging zwischen Swantje und Dolf; ein rascher Seitenblick zeigte ihr, dass Swantje in der rituellen Kleidung keine schlechte Figur machte. Auch Dolf hatte sich herausgeputzt – doch was war das? Anouks Blick blieb an Dolfs Stiefeln hängen, und ein kurzer Ausruf der Überraschung entfuhr der Hüterin. Dolf schien äußerlich ungerührt und blickte starr geradeaus, aber seine Augen flackerten ertappt.
Wie in einem Traum ließ sich Julie von den anderen immer dichter an die Katakomben führen. Mathys ging direkt hinter ihr; Julie tröstete der Gedanke, dass er da war. Noch immer hatte sie ihm nichts davon gesagt, dass der Trank verbraucht war. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Sie hatte ihm doch nach dem Turnier und der Sache mit Daans Heilung versprochen, von jetzt an ehrlich zu sein. Aber wenn Julie es ihm verriet, würde Mathys sie daran hindern, sich der gefährlichen Prüfung zu stellen, soviel war sicher. Und Julie konnte nicht zurück. Irgendjemand musste dem Vogt Einhalt gebieten, und Julie spürte es deutlich, es war ihr Schicksal.
Sie atmete tief auf und unterdrückte den Wunsch, sich nach Mathys umzudrehen, denn dann würde es kein Halten mehr geben, dann würde sie ihm alles gestehen müssen. Schritt um Schritt machte sie nacheinander. Mitten in Julies Gedanken mischte sich ein dumpfes Dröhnen. Das tiefe Tönen großer Trommeln hallte durch den Wald. Bedrohlich und Mark erschütternd prallte der Rhythmus von den Stämmen der Bäume zurück und schien plötzlich von allen Seiten zu kommen. Julie sah erschrocken zu Chris hoch, sein Gesicht war ernst. „Das ist der Teil der Geschichte den du noch nicht kanntest“, sagte Chris. „Ihr dürft es erst erfahren, wenn wir auf dem Weg zu den Katakomben sind – so lautet das Gesetz; dafür dürfen wir zwei Anwärterinnen stellen und diese ein Jahr lang ausbilden: Auch der Vogt tritt im Kampf um das Amt an. Du wirst dir den Platz als Hüterin hart erstreiten müssen.“
Eine Welle heißer Übelkeit erfasste Julie, in wenigen Augenblicken war sie leichenblass geworden. Schuldbewusst senkte Chris den Blick, er deutete Julies Erregung als Angst. Doch Julie dachte nur an Eines: Rache. Rache für all die Jahre ohne Mutter, Rache für die Einsamkeit, wenn andere Kinder in weiche, duftende Arme genommen worden waren, Rache für die Angst, ganz alleine da zu stehen, wenn ihr Vater die nächste Erkrankung vielleicht nicht überstehen würde. Das alles hatte er ihr angetan, bedenkenlos, grausam. Julie brannte darauf, dem Vogt gegenüberzutreten, es war ihr egal, was aus ihr selbst wurde. Begleitet von einer Eskorte schritt der Vogt in seinem schwarzen Ritualgewand auf den Eingang der Katakomben zu. Der Takt des pochenden Blutes in Julies Ohren war inzwischen so schnell, dass er sich seltsam mit den hektischen Trommelschlägen deckte.
Anouk hob die Hand. Augenblicklich setzte eine fast schmerzliche Stille ein. Hatte Julie gefürchtet, dass der Rat lange Reden schwingen würde, so sah sie sich angenehm enttäuscht. Anouk sagte nur: „Die Auswahl hat begonnen!“
Der Vogt schritt mit überheblicher Miene an den beiden Mädchen vorbei, ohne sie eines genaueren Blickes zu würdigen. Die Tür blieb offen. Ein Geräusch, als ob ein Stab drei Mal auf den Boden gestoßen würde, ertönte, und eine unbekannte Stimme rief: „Swantje Ricks!“
Swantje wurde von ihren Begleitern nach vorne geführt. Mit sichtlich zitternden Knien und blass wie der Tod folgte sie dem unerwarteten Gegner in den ersten wirklich gefährlichen Kampf ihres Lebens. Swantje zeigte den Trank; niemand öffnete ihn oder roch daran. Sie verschwand im Eingang der Katakomben. Riesige hölzerne Türflügel, die bisher im Innenschatten der Katakomben verborgen gewesen waren, schwangen mit hoher Wucht zu. Der Knall ließ ausnahmslos jeden zusammenzucken, auch die, welche eigentlich auf ihn vorbereitet gewesen waren.
Das Herumstehen machte Julie nervös. Sie setzte sich auf einen Baumstamm und begann zu warten. Suchend blickte Julie sich um. Hier entlang hatten die Hunde sie gejagt; konnte das, was kam, wirklich schlimmer sein als der Angriff der Hunde? Mathys vertrieb die düsteren Gedanken, indem er sich neben sie stellte.
„Nur Mut“, versuchte er kläglich seine
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