Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
seltsam trocken. Die vorher gemütlich wirkenden flackernden Schatten der Talglichter auf der rauen Steinwand hatten mit einem Mal etwas Bedrohliches. Das Wort, das Chris nicht ausgesprochen hatte und das doch über allem hing, kannte Julie aus der Schule; sie hatte sich sogar Bücher zu dem Thema aus der Bücherei geholt: Inquisition. Menschen wurden der Häresie, der Ketzerei angeklagt, wenn sie nicht taten was Kirche oder Obrigkeit wollten. Man nahm die armen Leute gefangen, enteignete ihren Besitz, exkommunizierte sie oder tötete sie als Hexen oder Teufelsanbeter. Aber das alles war Geschichte, es konnte doch nichts mit echten Gestalten aus der Gegenwart zu tun haben, oder doch? Verunsichert suchte Julie den Blick von Chris, aber zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hatte er kein aufmunterndes Lächeln für sie.
„Das war ich dir wohl schuldig“, sagte Chris tonlos und ging zur Tür.
„Danke“, krächzte Julie. Ihre Stimme gehorchte ihr kaum, und die Kopfschmerzen waren mit ungebändigter Wucht zurückgekehrt.
Als Anouk kurze Zeit später mit dem Schmerztrank kam, saß Julie weinend im Bett. Anouk wusste: Gegen diese Art von Schmerzen half der Trank nicht, aber wenigstens würde er die Schmerzen der Gehirnerschütterung lindern.
Als Mathys und Daan zum dritten Mal nach dem Vorfall kamen, um Julie zu besuchen, hörten sie die gleiche Antwort wie vorher. „Sie schläft, ihr müsst warten“, sagte Anouk freundlich, aber bestimmt. Mit hängenden Schultern ging Mathys an Daans Seite wieder auf den Burghof. So hatte er sich das Wiedersehen mit Julie nicht vorgestellt. Er hätte es nicht zugegeben, aber Julie war nicht die einzige Person gewesen, die die Tage bis zu ihrer Rückkehr nach Tallyn gezählt hatte.
Der Sturm an der französischen Atlantikküste peitschte über die schroffen Felsen. Die alte Steinkirche mit dem auffälligen großen Kreuz an der Seite schien sich in den glatten Felsboden zu krallen, um nicht von der hohen Klippe gerissen zu werden. Im Inneren der Kirche war es ruhiger, doch die düstere Stimmung ließ die tosenden Gewalten draußen als Wiegenlied erscheinen. Zorn färbte die eingefallenen Wangen des Vogtes, jedoch nicht rötlich, sondern dunkellila. Sein Gesicht glich einem Totenkopf, dem jemand zum Scherz die Haut wieder übergezogen hatte. Die Luft und das Licht um ihn herum wurden von der finsteren Gestalt des Vogtes aufgesogen, und die Welle des Hasses, die er dabei ausströmte, schwappte bis in die hinterste Ecke des verwahrlosten Gotteshauses. „Das war nicht das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Glück hat es gehabt, das dumme Ding. Schon wieder ist mir dieser Bärtige dazwischen gekommen; findet heraus, wer er ist!“, polterte der Vogt. Keiner der Männer, die mit gesenktem Kopf herumstanden, sah auf. Wenn der Vogt in dieser Stimmung war, war es besser ihn nicht zu reizen. Der Vogt raste. „Findet es heraus! Sofort!“ Keiner rührte sich. Mit wehendem Umhang rauschte der Vogt in Richtung Keller zu seinen Privaträumen. Im Vorbeigehen stach er mit seinem ziselierten Lieblingsdolch noch einen seiner Untergebenen nieder. „Vielleicht beeilt ihr euch jetzt etwas!“, brüllte er böse. Mit wehendem Umhang verschwand er auf der Steintreppe, die nach unten führte. Blass, aber gefasst nahmen die restlichen Männer dem Toten das Kreuz ab; es ließ sich jetzt leicht lösen. Der Stärkste unter ihnen schleppte den Leichnam zur Klippe und warf ihn hinunter zu den anderen, die in den kühlen Fluten des Atlantiks auf ihn warteten. Früher hatte man die Leichen einfach zusammen mit dem Müll durch das zerborstene Boden-Fenster neben der Kanzel geschoben, aber der Verwesungsgeruch hatte selbst den Leuten des Vogts zu schaffen gemacht. So war die Leichenbeseitigung im Meer eine der wenigen Arten von Aufräumarbeit, die die Anhänger des Vogtes freiwillig ausführten.
Was die befohlene Suche anging, wussten alle jetzt schon, dass sie nichts entdecken würden. Den seltsamen Mann mit dem Bart hatten sie schon oft gesucht – und nie gefunden. Es würde wohl laufen wie immer: Der Vogt würde keine zufriedenstellende Antwort bekommen und wahllos ein paar seiner Anhänger töten. Bis dahin konnte man sowieso nicht mit ihm reden. Also machten sich die Männer lieber auf den Weg. Es war besser, einen Geist zu suchen, als erstochen zu werden.
Hinterhalt beim Turnier
Nach zwei Tagen im Dämmerschlaf durch Anouks Heiltrank fühlte Julie sich zwar noch schwach, aber deutlich
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