Dryadenzauber (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
Schuss würde auf der Koppel hinter den Ställen stattfinden; hier waren keine Zuschauer erlaubt. Man stritt noch darum, ob das achthundert Jahre alte Zuschauerverbot sich auf das Geheimnis der Technik bezog, oder darauf, dass hier häufiger mal ein Pfeil nicht das Ziel sondern einen Unbeteiligten getroffen hatte.
Das aufgeregte Summen und Schwirren der Einwohner Tallyns zischte in den Straßen wie kaltes Wasser in einem trocken erhitzten Kupferkessel. Sie waren alle gekommen; die Männer trugen Schwert, enge Hosen und Kragen zum festlichen Wams, die Frauen hatten ihre schönsten langen Kleider schon vor Tagen gewaschen, die Unterröcke gebleicht und alles mit kohlengefüllten Glüheisen geglättet. Schließlich wollte man gut aussehen, wenn sich entschied, wer von den Kandidatinnen später als Hüterin das Schicksal aller in ihrer Hand haben würde. Julie war froh, dem hektischen Treiben noch einmal zu entkommen. Es war ihr sehr lieb, die erste Aufgabe ohne Zuschauer lösen zu können, sie war auch so schon nervös genug. Der beruhigende Geruch der Pferde im Stall schlug ihr entgegen. Obwohl es auch draußen noch nicht richtig hell war, mussten Julies Augen sich erst an das Dämmerlicht im Stall gewöhnen. Schließlich sah sie den Gager. Aufgeregt huschte er hin und her, um mal dem einen, mal dem anderen Pferd noch beruhigend etwas ins Ohr zu flüstern.
Julie wechselte einige Worte mit dem schlechtgelaunten Stallaufseher. Der Gager hasste das Tjosten, er hatte immer Angst, dass die Pferde dabei zu Schaden kamen. Julie hätte dem Gager gerne ein bisschen beigestanden, aber die Zeit drängte. Sie schnappte sich in der Sattelkammer schnell Sattel und Zaumzeug und ging zur Box. Go begrüßte seine Reiterin mit einem Wiehern. Dankbar nahm er die mitgebrachte Möhre; Julie putzte ihr Pferd noch einmal kurz über – das meiste hatte sie gestern nachmittags schon erledigt – und sattelte auf. Als sie fertig war, wimmelte die Stallgasse von Menschen und Pferden. Allein auf Julies Weg zum Ausgang stolperte zwei Mal jemand in der Hektik, der eine über einen am Boden liegenden Sattel und der andere über eine Putzkiste. Die Aufregung hatte inzwischen alle gepackt.
Julie schob sich mit Go an den anderen vorbei und führte ihn hinaus. Dicht an den Hals des Pferdes gelehnt, das Zaumzeug in der Hand, flüsterte sie ihrem Pferd ins Ohr: “Go, heute kommt es darauf an! Wir müssen gut abschneiden, hörst du?“
Sham Godolphin schnaubte und senkte die Nüstern. Natürlich hatte er verstanden.
Vor dem Stall hielt Julie nach Daan und Mathys Ausschau. Tatsächlich, auch Mathys war schon fertig mit dem Aufsatteln. „Wo ist Daan?“, erkundigte sich Julie.
„Schlechte Nachrichten; Daan hat etwas Falsches zu essen erwischt, er hat Migräne und Bauchweh. Er versucht gerade sein Pferd zu satteln, will es unbedingt alleine schaffen. Irgendwie flimmert das so vor seinen Augen, er sieht momentan nicht viel, aber Daan sagt, das geht normalerweise nach einer Weile wieder weg – wenn die Übelkeit und die Kopfschmerzen einsetzen.“
Verdammt! Wie sollte es jetzt weitergehen? Wenn Daan total ausfiel, konnten sie und Mathys es nicht einmal schaffen, wenn sie in jeder Disziplin die volle Punktzahl erreichten, denn es durften insgesamt bei allen dreien nur zwei Punkte fehlen, um auf die geforderte Punktsumme kommen.
Wie hatte das nur passieren können? Julie war nicht die Einzige, die sich das fragte. Daan hatte das mit dem Essen so gut im Griff gehabt; und ausgerechnet am Morgen des Turniers ging es zum ersten Mal seit langem wieder schief?
„Denkst du auch, was ich denke?“, fragte Mathys.
„Ich glaube schon“, sagte Julie.
„Seltsam, dass das gerade heute passiert!“ Verärgert schnaubte Mathys. „So oder so, wir müssen die Pferde warmreiten, es kommt jetzt auf jede Kleinigkeit an.“
„Du hast Recht, wir fangen besser an.“ Julie stellte ihren Fuß in den Steigbügel und hob das freie Bein so hoch es ging, um es über Gos Rücken zu schwingen. In diesem Moment riss der Sattelgurt. Der Sattel mit Julies linkem Fuß im Steigbügel rutschte am Pferd entlang mit Schwung zu Boden. Julie knallte mit dem ganzen Körpergewicht auf ihren durch den Steigbügel verdrehten linken Knöchel. Überrascht schrie sie auf, denn ein stechender Schmerz in ihrem Sprunggelenk verhieß nichts Gutes. Und tatsächlich: Julie hatte sich den Knöchel gebrochen. Julie saß auf dem Boden und dicke Tränen liefen über ihr Gesicht; sie wollte nicht
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