Dschiheads
â er mochte vielleicht Mitte zwanzig gewesen sein, mit glattem schwarzem, sorgfältig auf Glanz gebürstetem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel â schob einen Rollstuhl vor sich her. Darin saà ein furchtbar dünnes, fast magersüchtig wirkendes Mädchen, das offenbar nicht gehen konnte. Sie trug ein weites weiÃes Kleid. Ihr Alter war schwer zu schätzen, doch aus der Nähe bemerkte man, dass sie gar nicht mehr so jung war, sondern vielleicht schon Mitte dreiÃig sein mochte; ihr zarter Körperbau und ihre hinfällige Konstitution, ihre dünnen Arme und Beine lieÃen sie mädchenhaft erscheinen. Der junge Mann schob den Rollstuhl zu einem der kleinen runden Pavillons am Rand der Terrasse, klopfte die fliederfarbenen Kissen darin zurecht, hob die behinderte Frau aus dem Stuhl und bettete sie behutsam auf die Kissen. Dann nahm er neben ihr Platz, rückte seine metallgefasste Spiegelbrille zurecht und zog die Frau auf seinen SchoÃ. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Der junge Mann küsste ihren Hals, und über ihr schmales blasses Gesicht breitete sich ein beseligter Ausdruck. So wiegten sie sich eng umschlungen vor und zurück, vor und zurück, während die Sonne höher stieg und die Markise des Pavillons ihre Gesichter beschattete.
Carol â sie schlief meistens lange â kam auf die Terrasse, eine Tasse Kakao in der einen, einen Sesamkringel in der anderen Hand. »Vögeln die schon wieder?«, fragte sie, deutete mit dem Kinn zum Pavillon hinüber und biss in den Kringel.
Maurya sah ihre Schwester erstaunt an. »Glaubst du wirklich, dass sie â¦Â«
»Sieh dir doch ihren Blick an. Wie sie jedes Mal die Augen verdreht, wenn er ihn ganz tief drin hat. Die reine Glückseligkeit.«
»Aber das ist doch â¦Â«
»Ja, es ist unglaublich. Der geschniegelte Affe vögelt sie jeden Morgen in aller Ãffentlichkeit. Und kein Mensch nimmt Anstoà daran. Jeder tut so, als würde er nichts bemerken. Nicht einmal der Manager. Vielleicht denken die Leute, der Kerl tut doch ein gutes Werk. Verhilft dieser armen behinderten Frau zu ein bisschen Glück. Ist doch zu bewundern, oder? Dieses perverse Schwein!« Carol stieà den Rest ihres Sesamkringels so heftig in den Kakao, dass sie sich die Bluse bespritzte. »ScheiÃe!«, rief sie und blickte an sich hinab.
»Was regst du dich so auf?«
»Ach â¦Â«
Nun, sie hatte Liebeskummer, gestand sie später.
»Gehen wir zum Strand?«, fragte ihre Mutter.
»Nur wenn du mitkommst«, erwiderte Maurya.
»Klar komme ich mit.«
Maurya war gern am Strand, sah stundenlang den Wellen zu, wie sie heranzogen, sich aufbäumten und sich zischend verausgabten, bevor sie den Rückzug antraten, um sich mit der nächsten zu vereinigen und einen neuerlichen Ansturm zu versuchen. Doch um zum Strand zu gelangen, musste man einen ausgedehnten Palmenhain durchqueren, und dort lagen Dutzende kleine, halb vertrocknete Kokosnüsse im Gras, die ihr, als sie noch jünger war, jedes Mal Angst einjagten, weil sie wie Köpfe von Kindern aussahen. Und auch später war es ihr unangenehm, allein durch den Hain zu gehen. Ihr Vater hatte ihr vom bethlehemitischen Kindermord erzählt, bei dem König Herodesâ Soldaten alle Kinder getötet hatten. Es war, als müsste sie eine Schädelstätte durchschreiten.
»Warum räumen sie die nicht weg?«, fragte sie.
Ihre Mutter sah sie verständnislos an. »Die sind abgestorben. Man hat keine Verwendung für sie.«
Als Teenager war es Mauryas ganzer Ehrgeiz, die Signale der groÃen Expresszüge zu unterscheiden: das Heulen der Sirenen, das Gellen der Pfeifen und das Geläut der nuklear befeuerten Lokomotiven. Jeder Express hatte seine unverwechselbare Signatur: das Heulen des Danubian klang hohler als das des Sibirian , das Pfeifen des Aranyavas schriller als das des Ginger Arrow , das Geläut des Phaeton melodischer als das Bimmeln des Moluccan Trail . Maurya kannte sie alle und war nicht wenig stolz darauf.
»Ich habe heute Nacht den Danubian gehört«, sagte sie, als sie sich an den Tisch ihrer Eltern im Frühstücksraum setzte.
»Aber Maurya«, erwiderte ihr Vater. »Das ist unmöglich. Wir sind fünftausend Kilometer vom Nordkontinent entfernt. Das schafft nicht einmal die mächtige Lok des Danubian , sich über diese Entfernung Gehör zu
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