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Dschiheads

Dschiheads

Titel: Dschiheads Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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man ihm seinen Gott ausgebrannt und Mutter ins Heim gebracht hat, hat ihren Vater jede Energie verlassen. Sein Leben ist zu einem Rinnsal geworden. Früher, erinnert sie sich, saß er am Küchentisch, hat mit dem Zollstock Schnur abgemessen und dann Knoten hineingeknüpft, um die Abstände festzulegen. Dann hat er an beiden Enden des mit dem Rechen geglätteten Beets Pflöcke in den Boden gedrückt, die Schnur zwischen ihnen gespannt und mit dem Pflanzstock Löcher in die jungfräuliche Erde gegraben. Und so standen die Setzlinge dann da, in Reih und Glied wie angetretene Garderegimenter: Salat, Tomaten, Zucchini, Zwiebeln, Knoblauch, Möhren, Radieschen und natürlich die Kürbisse, die im Herbst groß wurden wie orangefarbene Medizinbälle und köstliche Suppen versprachen. Gleich neben der Tür zur Küche hat er auf einem Rahmen eine große flache Holzkiste aufgebockt – nahe dem Plastikdach über der Tür, sodass man auch bei Regen trockenen Fußes dahin gelangen konnte –, wo Schnittlauch, Petersilie, Kresse, Koriander, Basilikum und andere Kräuter wuchsen. Halb verfault hängt sie nun in ihrer verrosteten Halterung, überwuchert von Gräsern und Disteln. Das wilde, ungezähmte Unkraut vom Ufersaum ist unter der Hecke hereingekrochen und hat den Garten mit groben, harten, stacheligen Gewächsen überschwemmt, denen jede Ordnung und Geradlinigkeit fremd ist. Ein Jahr der Untätigkeit hat ihnen Einlass gewährt.
    Im Osten der Bucht steigt eine riesige Wolke von Giigiiis auf, Zehntausende von ihnen. Giigiii, giigiii – ihr gellendes Geschrei macht ihrem Namen alle Ehre. Manchmal finden ihre Stimmen zu einem geordneten Chor zusammen, meist aber ist es eine betäubende Kakophonie. Die kleinen Echsen, nicht größer als ein Finger, verbringen die meiste Zeit ihres Lebens im Meer, bis sie plötzlich die Reiselust überkommt und sie sich, einem geheimnisvollen Ruf folgend, wie fliegende Fische in ungeheuren Scharen in die Luft aufschwingen und Strecken von zwanzig oder dreißig Kilometern zurücklegen, um neue Weidegründe zu besiedeln. Die Fischer, die im prospektiven Zielgebiet an der Wasseroberfläche große engmaschige Netze aufspannen und sie so am Untertauchen hindern, fangen sie zentnerweise und bieten sie als kläglich zirpende, durcheinanderwuselnde Masse auf dem Markt an. Viele Menschen schätzen sie als Delikatesse, werfen sie lebendig in siedendes Öl, rupfen ihnen die Flügel und den Kopf ab und schieben sie als Ganzes in den Mund. Maurya schaudert es immer bei diesem Gedanken.
    Die Schreie der Giigiiis sind hinter dem westlichen Horizont verstummt. Sie schließt das Fenster ihres früheren Zimmers und geht nach unten, um in der Küche Wasser aufzusetzen. Im Kühlschrank findet sie einen halben Marmorkuchen, in Frischhaltefolie verpackt. Mrs. Riteman wird ihn gebacken haben. Früher war das sein Lieblingskuchen, aber den hier hat er nicht angerührt.
    Sie setzt sich zu ihrem Vater auf die Holzbank neben der Haustür. Trotz des dicken Pullovers, den sie anhat, friert sie.
    Â»Du warst gestern bei Mutter?«, fragt er.
    Â»Ja.« Mehr gibt es nicht zu sagen. Sie legt den Arm um ihn. Wie abgemagert er ist. Sie blickt ihn von der Seite an – wenigstens ist sein schmales graues Bärtchen sauber ausrasiert. »Komm, wir gehen rein. Ich mach uns Frühstück.«
    Sie hatten Mutter – frisch gewaschen und gewickelt, frisch gekleidet und gefüttert – in ihrem Rollstuhl auf die Terrasse gefahren.
    Â»Wenn es Ihnen zu kühl wird, Frau Professor Fitzpatrick, schalte ich gern die Sonnenspiegel ein.«
    Â»Danke, Schwester. Es ist angenehm so.«
    Maurya rückte ihren Stuhl so zurecht, dass sie Mutter ins Gesicht blicken konnte. Aus den offenen Fenstern des Küchentrakts waren Stimmen und das Klirren von Besteck auf Porzellan zu hören. Vorbereitungen für das Mittagessen. Der Duft von frischem Kaffee wehte über die Terrasse.
    Â»Hallo, Mutter! Ich bin’s, Maurya.«
    Die Augen ihrer Mutter fanden sie nicht – nein, suchten sie nicht. Ihre Finger krallten sich in die Armlehnen des Rollstuhls, als wollte sie verzweifelt etwas festhalten, was ihr längst entglitten war.
    Es waren Augen, aus denen das Nichts starrte. Das Licht fiel in die Pupille und wurde von einem Ereignishorizont zurückgeworfen, hinter dem sich das Bewusstsein verbarg. Unerreichbar.

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