Dschiheads
buchstäblich näher. Bis dahin hatte man mehr als viertausend Sonnensysteme entdeckt, von denen einige eine habitable Zone aufwiesen und nicht zu weit von der Erde entfernt waren. So wie dieses hier. Und da machten sich eben eine Menge Iren, vor allem Nordiren, Gedanken darüber, ob sie nicht dort drauÃen einen Neuanfang versuchen sollten, in einer friedlicheren Welt. Darunter dein UrgroÃvater, Maurya. Und den Planeten tauften sie in Erinnerung an die Heimat.« Das Lächeln erlosch. »Aber der Keim des Ãbels reiste mit.«
Maurya hatte ihre Eltern noch besucht, bevor sie nach Hot Edge aufgebrochen war.
Ihr Vater war sein Leben lang ein überzeugter Katholik von tief verwurzelter Frömmigkeit gewesen, und als man ihm diese Wurzeln aus der Schläfe riss, war er ein gebrochener Mann, der nicht mehr zu sich und seiner Welt zurückfand. »Ich habe überhaupt nichts gespürt«, sagte er unsicher, als er aus der Klinik kam, wo sie mit einem winzigen Stromstoà in den linken Schläfenlappen die Frömmigkeit aus dem Hypothalamus verscheucht hatten. Und doch war er von diesem Tag an völlig verändert. Er wirkte verlassen, verwaist. Bei Tisch saà er wie erstarrt da, hatte die Hände gefaltet und schwieg mit zusammengepressten Lippen; dann schob er den Stuhl zurück, erhob sich und ging in sein Zimmer, ohne einen Bissen angerührt zu haben.
Er verrichtete gewissenhaft seine Arbeit, aber er lachte nicht mehr. Er, der immer zu einem scherzhaften Gespräch mit seinen Kunden aufgelegt gewesen war, bediente sie nun wie ein Zombie; ein Geldautomat hätte seine Funktion ebenso erfüllt. Er verlor seinen Posten als Kassierer und erhielt einen Schreibtischjob in einem Hinterzimmer. Er magerte ab, verzehrte sich buchstäblich, bis er auf Anraten der Ãrzte in Rente geschickt wurde.
Einmal hörte Maurya, wie er mit zitternder Stimme zu Mutter sagte: »Es ist, als würdest du einen guten Freund verlieren, der dich bisher geführt hat. Plötzlich findest du dich auf einer nebelverhangenen Heide wieder und kennst den Weg nicht. WeiÃt nicht, in welche Richtung du gehen musst.«
Ob er am Ende seines Weges diesen Freund wiederfinden wird?
Ob er ihn überhaupt wiedererkennt?
Er wohnt noch immer in dem alten Holzhaus in Ballyliffin, wo früher die ganze Familie zu Hause war. Seit Mutter im Heim ist, lebt er allein. Julia Riteman, eine rüstige fünfundsechzigjährige Witwe in der Nachbarschaft, die früher eine bekannte Sopranistin an der Oper in Ballymoney war und nun im Ruhestand ihr Hobby, die Malerei, pflegt, kümmert sich um ihn, leistet ihm Gesellschaft oder lädt ihn zum Tee in ihr Atelier ein. Sie sind seit Jahren miteinander befreundet, und seit er nicht mehr so rüstig ist, macht sie ihm gelegentlich den Haushalt, schickt ihre Putzfrau bei ihm vorbei, damit sie nach seiner Kleidung sieht, abspült und aufräumt. Es ist nicht viel zu tun. Sie kauft für ihn mit ein, wenn sie in den Ort fährt. Es ist nicht viel einzukaufen. Manchmal kommt Carol mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern von Derry herüber, um nach ihm zu sehen. Es gibt nicht viel zu sehen. In Ballyliffin steht die Zeit still, zumindest für Menschen.
Die blauen Fischdrachen ziehen unablässig ihre Kreise, ihre rauen Schreie erfüllen die Morgenluft über der Bucht. Drüben, jenseits des Wassers, liegt auf den Hügeln der Inseln der erste Schnee. Die weià bestäubten Silhouetten der Schachtelhalme sehen unwirklich aus wie eine Filmkulisse.
Ãber dem ruhigen Wasser liegt eine dünne Nebelschicht, schmal und wie mit dem Lineal gezogen. Hin und wieder faltet einer der Fischdrachen die Flügel zusammen und lässt sich fallen. Er durchstöÃt die Nebelbank und die Wasserfläche wie eine Klinge, ist für zehn, fünfzehn Minuten verschwunden, dann taucht er triumphierend wieder auf, den Magen voll Fisch, klatscht mit den ledernen Flügeln und rennt über das Wasser, um Luft unter seine Schwingen zu bekommen und sich hochzuwuchten. Seine FuÃspuren verschwinden in konzentrischen Tümpeln auf der Wasseroberfläche, während sich schon der nächste Drache zur Klinge faltet und herabstürzt.
Wolken treiben jenseits der Bucht in die Berge. Es wird noch mehr Schnee geben. Maurya betrachtet den Garten. Die Hecke, früher pedantisch auf Kante gestutzt, ist auÃer Rand und Band. Einen Meter hoch aufgewuchert. Seit
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