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Dschiheads

Dschiheads

Titel: Dschiheads Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Anzo in seiner sauberen kleinen Schrift DONGOS geschrieben und zweimal unterstrichen hatte. Die Seiten waren mit Zeichnungen gefüllt: Kopfschilde und Rückenpanzer der Flussbewohner, einzeln oder in Gruppen, manchmal dicht zusammengedrängt und in eigenartigen Mustern angeordnet, bis zu sechs Reihen übereinander. Dazwischen Worte in klitzekleiner Schrift – Bemerkungen oder Erklärungen, die ich nur mühsam lesen und noch weniger verstehen konnte. Ich erinnerte mich, dass er mir das Heft einmal gezeigt hatte.
    Es war an einem Spätnachmittag, die Hitze hatte schon etwas nachgelassen, und wir saßen im Schatten der Rietpergola hinter dem Haus und spielten ein Würfelspiel. Anzo gewann fast immer – ich weiß nicht, wie er es anstellte –, und das verdarb mir zunehmend den Spaß. Das musste er gemerkt haben, denn plötzlich wischte er die Figuren vom Spielbrett, tippte mir auf den Unterarm, hob die Hände und sagte etwas. Ich verstand nicht, was er meinte – er wiederholte die Bewegungen.
    Â»Wenn ich schlafe?«, fragte ich unsicher zurück. »Was meinst du damit? Was ist, wenn ich schlafe?«
    Er sah mich mit seinen dunklen Augen forschend an, dann ging er ins Haus und kam mit dem Schulheft, einem Schreibblock und einem Bleistift zurück.
    Was träumst du nachts?, schrieb er auf den Block.
    Ich zuckte mit den Achseln. »Mal dies, mal das. Irgendwelches Zeug, manchmal ziemlich wirr.«
    Nicht immer wieder dasselbe?
    Â»Nein. Oder ganz selten etwas Ähnliches, von meinen Eltern oder so. Oder vom Tempel.«
    Anzos Blick hing aufmerksam an meinen Lippen. Er nickte nachdenklich. Ich träume zurzeit immer wieder dasselbe, schrieb er dann.
    Â»Was träumst du denn?«
    Darauf zeigte er mir das Schulheft. Einige Seiten waren dicht mit Strichen bedeckt. Er schlug eine auf und schob sie mir zu.
    Â»Was soll das sein?«
    Er hob die Schultern und machte das Zeichen für Dongos.
    Tatsächlich: Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass die Seite mit Hunderten von Dongos bedeckt war. Er hatte sie dicht neben- und übereinander angeordnet. Einer drängte sich an den anderen, sodass zwischen ihren Panzern und Schilden gar kein Zwischenraum mehr war.
    Â»Was machen die da?«, fragte ich.
    Anzo zuckte mit den Achseln.
    Â»So etwas träumst du? Und das immer wieder?« Ich schüttelte den Kopf. »Sieht irgendwie merkwürdig aus. Richtig obszön. Als würden sie …«
    Er riss mir das Heft aus der Hand und klappte es zu.
    Â»Entschuldige, ich wollte dich nicht kränken. Man kann ja nichts für seine Träume. Sie fallen über einen her, wenn man schläft. Man kann nichts dagegen tun.«
    Jetzt hielt ich also das Heft mit Anzos Träumen in der Hand. Ich steckte es in meine Umhängetasche aus Kuangaleder, wo es vor Nässe und neugierigen Augen geschützt war. Dann ging ich zum Fluss hinunter und deponierte die Tasche in meinem Rundboot unter einer dichten Binsenmatte. Sollte Anzo nicht mehr zurückkommen, wollte ich das Heft zur Erinnerung an ihn aufheben und in Ehren halten. Daraufhin machte ich mich auf den Weg nach Hause. Es war höchste Zeit, mit Vater auf den Fluss hinauszurudern – die Netze mussten für die Nacht ausgelegt werden.
    Während ich über den Pfad zum Dorf lief, weinte ich. Es war ein Tag voller Angst und Bangigkeit gewesen, aber es war nicht nur Trauer, die ich verspürte – es war auch Trotz und Zorn.
    Sie waren nach dieser Nacht wie vom Erdboden verschluckt: Anzo ebenso wie seine Mutter. Vielleicht hat der Teufel sie geholt, mutmaßten die einen, und andere sagten spöttisch: Vielleicht sind sie zu den Dongos gegangen, mit denen verstand er sich doch so gut.
    Der Großarchon verlor kein Wort über sie, weder bei den Predigten im Tempel noch bei den Versammlungen der Gemeinde. Es war so, als hätte es sie nie gegeben.
    Hatte er die beiden umgebracht und ihre Leichen in den Fluss geworfen? Mich schauderte bei dem Gedanken, denn er war ungeheuerlich und sündig, aber er drängte sich mir immer wieder auf, wenn ich wach lag und an die qualvollen Ereignisse jenes Tages zurückdachte.
    Nein, sagte ich mir, sie sind geflohen. Am Morgen nach ihrem Verschwinden, kurz vor Sonnenaufgang, war ein Floß den Fluss hinabgezogen, und solange das Dorf in Hast und Unruhe war, um einen schnellen Handel mit den Flößern abzuschließen, hatte Anzos Mutter bestimmt die

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