Du bist das Boese
Gelegenheit nachzudenken. Seine schweren Verletzungen gaben ihm sechs Tage Zeit, sich auf die erste Befragung vorzubereiten.
Er hatte eine Krankenschwester gebeten, ihm ein Exemplar der Zeitung vom 5. Januar zu besorgen. Als er die Überschrift des kurzen Artikels von Linda Nardi las: »Und wenn es mal einen Polizisten erwischt?«, traf er seine Entscheidung. Nach dem Tod von Belhrouz, Coppola, Colajacono und Tatò wollte er kein Leben mehr aufs Spiel setzen, am allerwenigsten das von Linda Nardi. Wobei dieses »am allerwenigsten« ihm zu denken gab. Gegen seinen Willen hatte sich eine Unbekannte in seine Gedanken eingeschlichen.
Er hatte Jahre gebraucht, um ein vernünftiger Erwachsener zu werden, der um seine Pflichten, Risiken und Fehltritte wusste. Nun bot sich die Gelegenheit, den oberflächlichen Mike Balistreri, den draufgängerischen, kompromisslosen Abenteurer endgültig zu begraben. Er hatte einige Tote auf dem Gewissen, nicht nur die jüngsten Opfer. Sie zu vergessen, war völlig unmöglich. Er konnte den Schaden nur begrenzen und für seine Fehler um Vergebung bitten.
Die Wahrheit hatte ihren Preis, und in diesem Fall war er zu hoch. Er schloss einen stillschweigenden Pakt mit dem Unsichtbaren.
Die Jagd ist vorüber. Ich behalte meine Toten und meine Gewissensbisse und suche dich nicht länger. Aber du musst aufhören.
Der Staatsanwalt und Pasquali stellten ganz einfache Fragen. Der Hergang der Ereignisse war bereits eindeutig rekonstruiert worden. Colajacono und Tatò, die ihre eigenen Informationsquellen hatten, waren zu der Hütte gefahren, weil sie etwas suchten. Dort wurden sie von den vier Rumänen überrascht, den Lacatus-Vettern und Adrian und Giorgi. Die hatten auch Nadia entführt und zu Vasile gebracht, der sie dann mithilfe des anderen Schäfers erdrosselt hatte. Colajacono und Tatò wurden mit Handschellen gefesselt und kaltblütig ermordet. Coppola, der unglückliche Held, hatte Colajacono auf Anweisung von Balistreri verfolgt, und Balistreri selbst war an den Tatort geeilt, nachdem Coppola ihn per Handy informiert hatte. Jetzt ging es nur noch darum, diese Rekonstruktion der Fakten formal zu bestätigten.
Keiner wollte wissen, ob er außer den vier Rumänen noch eine andere Person gesehen hatte. Es schien nur diese eine Spur zu geben, und die Schüsse auf Coppola, Tatò und Colajacono und jene, die Balistreri beinah umgebracht hatten, waren allesamt aus den sechs Pistolen abgefeuert worden, die man bei den vier Rumänen fand. Der Staatsanwalt und Pasquali gratulierten zum entscheidenden Schlag gegen Mircea, und niemand kam auf die Idee, Balistreri zu fragen, wie er überhaupt seine Haut hatte retten können, so ganz ohne Hilfe und in einem solchen Zustand.
Weil der Unsichtbare wollte, dass ich weiterlebe. Zerstört bis in alle Ewigkeit.
Linda blätterte in den alten Zeitungen, die sie sich hatte bringen lassen. Die ältesten datierten von 1970. Sie wusste, dass Balistreri bis zum Sommer dieses Jahres in Libyen gelebt hatte, aber über die Zeit dort konnte sie nichts finden. Im Herbst 1970 tauchte er an der Universität von Rom auf.
Ein junger, viel zu selbstbewusster Balistreri. Umringt von anderen jungen Leuten, die ebenso stolz und überzeugt wirkten. Kundgebungen zu Themen wie Würde, Loyalität, Mut, Heimat. Später dann Doppelaxt, SS-Motti, römischer Gruß, Schwarzhemden, Verletzte, Mannschaftswagen der Polizei, Tränengas und Steinhagel in der Universität und zwischen den Tiberbrücken. Nie allerdings eine direkte Verbindung zu politisch motivierten Verbrechen, Anschlägen und Blutbädern.
Ende 1973 löst die christdemokratische Regierung den Ordine nuovo auf und verhaftet seine Anführer, aber von Michele Balistreri verliert sich jede Spur. Linda Nardi fand nichts mehr, weder in den Zeitungen noch in den offiziellen Dokumentationen des Innenministeriums. Kein Wohnsitz, kein Bankkonto. Nichts.
Erst im Juni 1978, einen Monat nach der Ermordung von Aldo Moro, gibt es wieder ein Lebenszeichen von Michele Balistreri. Er kehrt zurück an die Universität, macht seinen Abschluss in Philosophie, schlägt später die Polizeilaufbahn ein und wird Kommissar. Als solcher arbeitet er ab 1980 in Vigna Clara und dreht in diesem ruhigsten Viertel von Rom Däumchen.
Den Mann von heute mit dem jungen Balistreri in Verbindung zu bringen, war in mancher Hinsicht einfach, in anderer unmöglich. Würde, Loyalität und Mut waren immer noch da, wenn auch nur als Erinnerung, verblasst hinter
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