Du bist das Boese
wenn ich partout keine andere Wahl hätte. Wie vor fünf Monaten auf diesem verdammten Hügel.«
Sie nickte, aber ihre Augen sagten Nein. Ihre Hände öffneten sich, und Balistreris Hand war frei. Ganz leicht war sie plötzlich. Und allein.
DRITTER TEIL
Sonntag, 9. Juli 2006
Vormittag
Seit über einem Monat ging er wieder zur Arbeit. Es war eine ruhige Zeit. Im Büro erwähnte niemand die Schießerei oder die Verbrechen. Darum kümmerte sich die Staatsanwaltschaft, und die Mörder saßen im Gefängnis. Hagis vier Angestellte, die Vasiles Komplizen waren und Nadia gegen ein Auto eingetauscht hatten, um damit einen Raub zu begehen, waren tot. Der Mörder von Camarà, ein unbekannter Motorradfahrer, hatte ihn höchstwahrscheinlich erstochen, weil er ihn nicht ins Bella Blu reinlassen wollte. Es gab nicht die geringste Verbindung zwischen den beiden Fällen. Und schon gar nicht zwischen der ENT und dem Geheimdienst.
Balistreri lebte mit Linda und gleichzeitig ohne sie. Mit Liebe, aber ohne Sex. Er tat Dinge, die er nie zuvor getan hatte. Er reparierte ein tropfendes Wasserrohr, sah sich im Fernsehen Krimis an und versuchte es mit Golfspielen. Einen ganzen Sonntag verbrachte er in der Garage, weil er Lindas altes Moped wieder flottmachen wollte.
Der Frieden, den wir vor sechsunddreißig Jahren meinten. Ein Paar, ein Haus, Freunde, Arbeit, Kinder. Ein Frieden, den ich nicht verdient habe.
Mitten in der sommerlichen Trägheit war die Leidenschaft für die Nationalelf wieder erwacht. In den letzten Tagen hatte der kollektive Rausch stetig zugenommen. Italiens Einzug ins Berliner WM -Finale gegen die Franzosen war so unerwartet und überwältigend gewesen wie vor vierundzwanzig Jahren. Italienische Fahnen hingen an allen Balkonen, das Stadtzentrum war allabendlich von den Autokorsos der Fans verstopft, in den Büros, Kirchen, Krankenhäusern und Straßen gab es nur noch ein Thema. Bars und Restaurants kredenzten ausschließlich Gerichte in den Nationalfarben: grüner Salat mit Tomaten und Mozzarella oder Wassermelone mit Honigmelone und Kiwi. Ein von den separatistischen Anwandlungen Padaniens gespaltenes Land entdeckte sein Herz für die gute alte Trikolore wieder. Als richtiger Italiener musste man bei dem azurblauen Abenteuer auf deutschem Boden mitfiebern, egal, wie heiß und schwül dieser Juli war.
Sogar die Politik und die große Diskussion um die Einwanderer waren in Presse, Fernsehen und Gesprächen in den Hintergrund getreten. Viele Ausländer erwiesen sich, aus Überzeugung oder aus purem Opportunismus, als begeisterte Anhänger der Azzurri . Sie standen an den Straßenecken und machten gute Geschäfte mit dem Verkauf von gefälschten Fußballtrikots. Nach den Spielen fiel man sich in die Arme. Für die Mordopfer interessierte sich niemand mehr.
Am Vormittag telefonierten Balistreri und Dioguardi miteinander.
»Lass uns doch während der Partie mit Linda und Margherita einen schönen Spaziergang durch die ausgestorbene Stadt machen«, schlug Balistreri vor.
»Margherita will das Finale unbedingt sehen. Sie treffen sich alle bei deinem Bruder. Linda hat sie auch schon überredet. Wir seien unsozial, sagen sie.«
»Dann gehen wir eben allein, und sie kommen später nach. Italien wird sowieso verlieren, die Stadt bleibt also leer.«
»Wir gewinnen, Michele. Und Margherita und Linda gehen mit den anderen feiern.«
»Linda würde nie auf der Straße feiern, Angelo.«
»Aber wenn Italien gewinnt, braucht Linda drei Stunden für den Weg.«
Der Déjà-vu-Effekt war ihnen beiden bewusst, auch wenn sie es nicht aussprachen. Sie hatten nie über jene Nacht des Jahres 1982 geredet, aber ihre Fußballbegeisterung hatte unweigerlich nachgelassen. So gab es für beide nur eine Lösung: Spaziergang durch die leere Stadt, und sollte Italien das Spiel verlieren, noch einen zweiten Spaziergang. Im Falle eines Sieges strategischer Rückzug auf Lindas Dachterrasse. Sie beide allein.
Für Giovanna Sordi war dieser Morgen wie jeder andere in den vergangenen vierundzwanzig Jahren. Um halb neun fuhr sie mit der Straßenbahn zum Friedhof Campo Verano. Sonntag war der Tag, an dem sie frische Blumen ans Grab brachte. Tulpen für Elisas romantische Seele, Nelken für Amedeos sozialistische. Eine kurze, besinnliche Andacht ohne Tränen. Ein geflüstertes Requiem: vierundzwanzigmal für Elisa, zehnmal für Amedeo. Dann mit der Straßenbahn zurück in ihre alte Wohnung in dem Vorort, den sie nie verlassen hatte. Am Mittag die
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