Du bist das Boese
vermieden. Er erinnerte sich noch gut an die widersprüchlichen Gefühle von Respekt und Abneigung, die der Conte in ihm hervorgerufen hatte. Überdies war dieser Mann die wandelnde Mahnung an den verheerendsten Fehlschlag seiner Karriere.
Als das beschämende Scheitern der Ermittlungen evident geworden war, hatte der Conte ihn und seinen Chef Teodori mit der gleichen frostigen Geringschätzung verabschiedet, mit der er ihnen vom ersten Augenblick an begegnet war. Eine von Mitleid durchsetzte Verachtung, mit der höhere Wesen Schwachköpfe abfertigen. Das demütigende Erlebnis hatte ihm jahrelang schlimmer zugesetzt als die Schuldgefühle.
Das Anwesen an der Via della Camilluccia war noch eleganter, als er es in Erinnerung hatte. Die Bäume waren gewachsen, und die beiden dreistöckigen Villen waren erst vor Kurzem frisch gestrichen worden.
Das breite grüne Gittertor, das Elisa Sordi kurz vor dem WM -Finale von 1982 zum letzten Mal durchschritten hatte, war mit Efeu überwuchert, ebenso die Pförtnerloge und das Häuschen neben dem Tor.
Natürlich wachte hier nicht mehr Signora Gina, sondern ein junger Immigrant in Uniform – in derselben Stadt, in der sich das Casilino 900 befand und in einem Brunnen Nadias Leiche gefunden worden war.
Bevor er sich dem Tor näherte, rauchte er noch schnell eine Zigarette und wappnete sich innerlich für den Verzicht.
»Der Conte erwartet Sie, Dottor Balistreri. Sie können gleich hinter dem Brunnen parken«, sagte der junge Pförtner freundlich, öffnete ihm das schwere Tor und ließ ihn mit dem Wagen hineinfahren.
Auch hier ist die Demokratie eingezogen. Der Conte muss wirklich alt geworden sein.
Die Sonne beschien die beiden baugleichen Penthouse-Etagen, die der Conte und der Kardinal bewohnten. Balistreri fuhr durch den großen Park hindurch, umrundete den Brunnen und parkte seinen alten Fiat in einer schattigen Ecke neben dem Aston Martin. Klar, ein moderneres Modell als jenes, an das er sich erinnerte. In der Villa B, hinter dem Swimmingpool und den Tennisplätzen, waren alle Rollläden heruntergelassen. Balistreri schaute schnell weg, als sein Blick auf das Fenster von Elisa Sordi fiel.
Er trat in den kleinen Fahrstuhl in der Halle von Villa A und drückte den Knopf zum Penthouse. Auf dem Treppenabsatz waren die düsteren Grafiken mit Szenen aus dem antiken Rom durch prächtige Fotodrucke ersetzt worden: strahlend grüne Hochebenen, ein See von meeresähnlichen Ausmaßen, ein nahezu weißer Fluss.
Der junge Privatsekretär des Conte empfing ihn in Jeans und Lacoste-Shirt. Die Wohnung, die er nur in Schatten getaucht kannte, mit zugezogenen Vorhängen und halb heruntergelassene Rollläden, war von hellem Sonnenlicht durchdrungen, und auch die schweren drapierten Vorhänge waren verschwunden. Sie durchquerten die beiden Salons. Keine Spur von schwarzen Ledersofas und beängstigenden Gobelins, stattdessen überall Spiegel und modernes Mobiliar.
Der junge Mann führte ihn in einen kleinen klimatisierten Salon mit zwei gemütlichen hellen Sesseln und vollständig hochgezogenen Rollläden.
»Der Conte wird jeden Moment hier sein. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Balistreri bat um einen Kaffee und setzte sich. Er war schon wieder drauf und dran, seine Diät zu brechen, aber er konnte den koffeinfreien einfach nicht mehr ertragen. Unauffällig schielte er nach draußen. Die Balkontür ging auf die geräumige Terrasse hinaus, und man sah einen Sonnenschirm und die Ecke eines Arbeitstisches samt Computer.
»Dottor Balistreri.«
Er hatte ihn nicht kommen hören. Conte Tommaso dei Banchi di Aglieno besaß immer noch eine kerzengerade Haltung. Das glatte, sorgfältig nach hinten frisierte Haar war nur ein wenig dünner, und hier und dort hatte sich eine graue Strähne ins Schwarz verirrt. Statt Spitzbart trug er nun einen kurzen, grauen, gepflegten Vollbart. Tadelloser blauer Zweireiher. Die Veränderungen beschränkten sich also auf die Umgebung. Die Person betrafen sie nicht.
»Signor Conte.« Balistreri erkannte den festen Händedruck von früher.
»Hier haben wir es schön ruhig und angenehm kühl. Setzen Sie sich doch.«
Der Conte zeigte nicht die geringste Spur von Erstaunen, Ärger oder Feindseligkeit. Nach vierundzwanzig Jahren stand er dem Mann gegenüber, der seinen Sohn irrtümlich angezeigt und dadurch den Selbstmord seiner Frau provoziert hatte, aber nichts in seinem ruhigen Blick ließ darauf schließen, dass diese Vergangenheit ihm zu schaffen
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