Du bist das Boese
Wohnzimmer und kramte in einer großen Schublade voller Fotoalben. »Da ist es ja«, rief sie freudig. »Ich habe ein Foto von der Gruppe von 1982.«
Sie reichte es Balistreri. Im Hintergrund die Kirche von San Valente. Eine Gruppe lächelnder junger Leute: Padre Paul, Valerio, Alina Hagi, Anna Rossi. Und neben Anna Rossi, tadellos in Jackett und Krawatte, den Arm um ihre Schultern gelegt wie jetzt ihr Mann, der zukünftige Rechtsanwalt Francesco Ajello, inzwischen Geschäftsführer des Nachtclubs Bella Blu und der ENT.
Balistreri beschränkte sich darauf, die nötigsten Fragen zu stellen.
»Wie ist Ihr Verlobter zu der Gruppe gestoßen?«
»Dieser junge Mann hier hatte ihn mitgebracht. Sie waren befreundet.«
Und ihr Finger zeigte auf die schmächtige Gestalt von Valerio Bona.
Eine Menge erstaunlicher Zufälle, würde Pasquali sagen.
Es war ein sommerlicher Freitagabend. Pasquali war bestimmt längst unterwegs, um das Wochenende in seinem Heimatdorf zu verbringen, und ihn dort anzurufen, kam nicht infrage. Auch die Idee, Corvu zu benachrichtigen, verwarf er gleich wieder. Dass Ajello die Bühne betreten hatte, ließ die ENT wieder in den Mittelpunkt des Falls rücken. Ajello war die ENT . Und die ENT bedeutete Ärger. Er hatte schon Coppola verloren, und Corvu hatte in Dubai den Anschlag auf Belhrouz miterleben müssen.
Ihm war bewusst, dass der Streit zwischen Vorsicht und Wahrheit auch der Streit zwischen seinem jetzigen und seinem früheren Ich war. Unglücklich waren sie beide, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Er musste einen Kompromiss finden, um die Lebenden zu schützen und den Toten gerecht zu werden.
Bei ihrem letzten Treffen hatte er sich die Handynummern von Padre Paul und Valerio notiert. Zuerst rief er Paul an und hatte schon eine Ahnung, wo er gerade war.
»Dottor Balistreri, erst lassen Sie so viele Jahre nichts von sich hören und dann diese Beharrlichkeit. Wollen Sie mich schon wieder besuchen?«
Im Hintergrund war Kindergeschrei und klapperndes Geschirr zu hören. In San Valente war Abendessenszeit.
»Kann ich kurz bei Ihnen vorbeikommen?«
»Nicht nur das. Wir essen gleich. Ich lasse einen Teller mehr decken.«
Paul empfing ihn vor dem großen, hell erleuchteten Haus. Einige Kinder verteilten das Essen, das die Köchin in der Küche zubereitet hatte. Sie warteten nur noch auf ihn. Paul zeigte auf einen freien Platz zwischen einem asiatischen Jungen und einem afrikanischen Mädchen, die elf, zwölf Jahre alt sein mochten.
Es gab köstliche Spaghetti mit Tomatensoße. Die Kinder alberten rum und sahen Balistreri verstohlen an. Nach einer Weile nahm der asiatische Junge all seinen Mut zusammen.
»Ich heiße Luk. Und du?«
»Michele. Ich bin ein Freund von Paul. Du sprichst aber gut Italienisch.«
»Ich bin schon seit drei Jahren hier. Das habe ich Paul zu verdanken. Er und der Kardinal haben mich gerettet.«
»Woher kommst du, Luk?«
Das Kind antwortete eilig, als wollte es den Schatten der Erinnerung verjagen: »Aus Kambodscha.«
Auch das afrikanische Mädchen fasste sich ein Herz und zupfte an Balistreris Ärmel. Ein niedliches Mädchen mit großen Kulleraugen. »Ich heiße Bina und komme aus Ruanda. Ich bin älter als Luk.«
Plötzlich redeten die Kinder alle abwechselnd auf ihn ein. Sie sprachen nur von San Valente, als hätte der erste Teil ihres Lebens nie stattgefunden. Balistreri bemerkte, dass Paul ihn dann und wann beobachtete. Für eine halbe Stunde gelang es Balistreri, die Vergewaltigungen, die Morde, Hagi, Ajello und die ENT zu vergessen. Es war, als befände er sich in einer anderen Dimension, in der sich angesichts der Unschuld und der Dankbarkeit dieser Waisen alltägliche Nöte in nichts auflösten. Das idealistische Chaos von 1982 hatte sich in eine effiziente, Glück spendende Organisation verwandelt. Er konnte gut verstehen, dass Paul stolz darauf war.
Als das Obst verteilt wurde, gab Paul ihm ein Zeichen, dass er draußen auf ihn warte. Sie setzten sich unter denselben Baum wie immer, beim schwachen Schein einer kleinen Lampe. Ein etwa dreizehnjähriges Mädchen brachte ihnen ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee. Alles in San Valente hatte sich verändert, alles war gewachsen, wie Padre Paul.
»Kaffee und Zigarette?«, fragte Paul, als wolle er bekräftigen, dass nichts mehr war wie zuvor.
Es war kein koffeinfreier Kaffee, und er war köstlich. Balistreri nahm Pauls Zigarette an. Schon die sechste an diesem Tag, nachdem er jahrelang nicht
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