Du bist das Boese
Ursache noch Zeuge irgendwelcher Gefühlsausbrüche sein.
Coppola setzte sich ans Steuer und ließ die Sirene aufheulen, während Piccolo ihn über Ramona Iordanescus Anzeige informierte. Wie ein Wahnsinniger raste er durch den dichten Verkehr, als wäre er allein auf der Rennstrecke von Monza.
Nach kurzer Zeit lag die Innenstadt hinter ihnen, und an die Stelle der prächtigen antiken Palazzi traten die verwitterten Wohnblöcke am östlichen Stadtrand, Spekulantenruinen der Sechziger.
Um Viertel vor neun erreichten sie das Kommissariat von Torre Spaccata. Der Eingang bestand aus einem verrosteten Gittertor, über dem sich ein sechsstöckiges Haus mit unzähligen Fenstern und ohne Balkone erhob. Sie klingelten an der Gegensprechanlage. »Kommissariat«, antwortete eine junge, sizilianisch klingende Stimme.
Der diensthabende Beamte hieß Giuseppe Marchese, war kaum über zwanzig, hatte sehr kurzes, dunkles Haar und wache Augen. Er war in Zivil, wandte sich gleich an seinen männlichen Kollegen und beachtete Piccolo gar nicht. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ispettore Coppola.« Der Zwerg zeigte seinen Dienstausweis. Taktische Pause. Der Polizist wurde nervös, der übliche Effekt, wenn die Sondereinheit auftauchte. Coppola deutete auf die Frau an seiner Seite. »Ich begleite Vicecommissario Piccolo.«
»Ich … ich gebe gleich meinem Vorgesetzten Bescheid«, stotterte Marchese und streckte die Hand zum Telefon aus.
»Nein«, unterbrach Coppola ihn scharf. »Wir wollen mit dir reden. Gibt es hier ein Büro, wo wir unsere Ruhe haben?«
»Na ja«, sagte Marchese mit einem vorsichtigen Blick zur Wanduhr. »Eigentlich hätte ich in fünf Minuten Dienstschluss.«
»Umso besser, dann kann uns ja keiner stören. Wohin gehen wir also?«, drängte Coppola. Er verspürte einen Hauch Mitleid mit dem Jungen, der wahrscheinlich noch nicht viel von der Welt gesehen hatte außer seinem Dorf und diesem Kommissariat in einer der hässlichsten Gegenden dieser anstrengenden Stadt. Dass man Ramonas Abreise nicht verhindert hatte, war im Übrigen auch seine Schuld.
Marchese führte sie in ein kleines Eckzimmer, während seine Kollegen von der nächsten Schicht abgelöst wurden. Einige sahen verwundert herüber, aber Coppola schlug ihnen die Tür vor der Nase zu. In dem Raum standen zwei Stühle und ein Schreibtisch. Coppola schob den größeren Stuhl Piccolo zu, die sich damit in eine Ecke zurückzog. Er selbst stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Schreibtisch.
»Setz dich«, befahl er Marchese. Der arme Kerl hockte sich ganz vorn auf die Stuhlkante, Piccolo im Rücken.
»Es geht um Ramona Iordanescu. Du hast ihre Aussage zu Protokoll genommen«, begann der Zwerg.
Marchese sprang auf. »Ispettore …«, setzte er an.
Coppola legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, und der ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Sein Unbehagen war nicht zu übersehen. Piccolo hatte es gelernt, Angst sofort zu erkennen, aber selbst für einen emotional ungefestigten jungen Mann war seine Reaktion auffallend heftig. Sicher, die Sondereinheit, das barsche Auftreten des Zwergs. Aber noch hatte ihm niemand irgendetwas vorgeworfen. Sie erhob sich und pflanzte sich vor ihm auf, während Coppola in exakt demselben Moment aus seinem Blickfeld verschwand.
Nun ging sie vor Marchese in die Hocke, sodass ihre Augen sich fast auf gleicher Höhe befanden. »Giuseppe«, begann sie mit ruhiger Stimme. »Du hast nichts Schlimmes getan. Bei deinem Dienstgrad ist das auch gar nicht möglich.« Er sah sie an, als wäre sie die heilige Madonna, die ihn vor der Hölle retten würde. Sie ließ ihm genug Zeit, sich zu beruhigen. Dann sagte sie leise und in reinstem Sizilianisch: »Nur eine Sache will ich von dir wissen: Wer hat der Iordanescu erlaubt, in ihre Heimat zu reisen?«
Der Blick des jungen Mannes schnellte zur Tür, hinter der sich leises Stimmengewirr erhob. Piccolo sah den Zwerg an, der sofort Anstalten machte, draußen nach dem Rechten zu schauen, als es auch schon klopfte. Coppola öffnete, trat hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich. Die Stimmen wurden lauter. Piccolo hatte eine Minute, wenn überhaupt.
»Wir sind hier nicht zu Hause in Sizilien. Wenn du nicht die Wahrheit sagst, machen sie dich fertig«, fuhr Piccolo fort.
»Die kleinen Fische werden immer fertiggemacht«, seufzte er. Dann nannte er leise einen Namen.
Auf dem Flur brach ein Heidenlärm aus. Piccolo riss die Tür auf. Ein uniformierter Mann um die
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