Du bist das Boese
fünfzig, der Coppola um einen Kopf überragte, brüllte ihm soeben ins Gesicht: »Ich werde ein Disziplinarverfahren gegen Sie einleiten. Wir sind hier doch nicht in Chicago, für wen halten Sie sich …« Dann sah er Piccolo und zog eine Miene, als würde er sich fragen, wer diese muskelbepackte Schlampe denn war.
Piccolo, die seine Gedanken lesen konnte, zeigte ihm ihren Dienstausweis. Der Typ sah sie an, wurde aber gleich wieder aggressiv. »Sie können hier nicht so einfach reinplatzen und einen meiner Männer verhören.«
Er musterte sie abschätzig und zeigte ebenfalls seinen Dienstausweis: Remo Colajacono, Vicecommissario. Er war groß und stämmig. Sein dichtes graues Haar war mit Gel nach hinten gekämmt und im Nacken länger. Die Augen über der Boxernase standen eng beieinander, schwarz und gemein.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, reden wir in Ihrem Büro weiter und nicht mitten auf dem Gang«, sagte Piccolo freundlich.
Der Mann wandte sich brüsk ab, ging voraus zu einem Eckbüro, setzte sich auf seinen Bürosessel unter dem Kruzifix und dem Foto des Staatspräsidenten und zeigte, ohne ihr einen Stuhl anzubieten, mit dem Finger auf Coppola. »Der da bleibt draußen.« Coppola ging und schloss die Tür hinter sich.
»Gut, reden wir also über Ramona Iordanescu«, begann Piccolo.
»Sie meinen die Vermisstenanzeige von gestern Morgen«, antwortete er etwas zu schnell.
Piccolo musste sich ein Lächeln verkneifen. Aggressive Männer waren meist zu ungeduldig. »Nein, es geht um das Mal davor. Haben Sie selbst mit ihr gesprochen?«
Colajacono fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, weil Piccolo in keine der Schubladen passte, in die er Frauen zu stecken pflegte: Mütter, Schwestern, Schlampen und Tote. Er war groß, aber sie war größer. Er hatte Muskeln, aber sie hatte mehr. Er besaß einen hohen Dienstgrad, sie auch, aber in einer wichtigeren Dienststelle.
Um Zeit zu gewinnen, zündete er sich eine Zigarre an. »Stört Sie der Rauch?«
»Nein«, sagte Piccolo, stand auf und öffnete das Fenster, als wäre sie bei sich zu Hause.
Colajacono entschied sich für das Vorgehen, das er am besten unter Kontrolle zu haben glaubte. »An dem Tag habe ich nur ein paar Minuten mit ihr gesprochen. Sie kam am 25. Dezember, irgendwann vormittags. Marchese sagte, da sei ein rumänisches Mädchen, das mit dem Kommissar sprechen wolle, und um dem Chef so lästigen Kleinkram am Feiertag zu ersparen, habe ich das selbst übernommen. Sie erzählte, ihre Freundin Nadia sei verschwunden. Ich fragte, ob ihre Freundin ein Handy habe, und sie sagte Nein, das könnten sie sich nicht leisten. Ich habe sie gefragt, ob ihre Freundin diese Arbeit gern mache, und sie sagte Nein, und sie selber auch nicht, keine Frau mache das gern. Gehen alle auf den Strich, und keine macht es gern.«
Piccolo schwieg, aber ihr Blick wurde finster.
»Ich sagte, sie soll es uns wissen lassen, falls ihre Freundin nicht wieder auftaucht«, redete Colajacono ungerührt weiter.
Piccolo hob eine Augenbraue. »Wirklich? Mehr nicht?«
Colajacono durchbohrte sie mit seinen kalten schwarzen Augen. »Das soll ich heute noch wissen? Ist doch eh klare Sache. Das Flittchen hat einen blöden Italiener gefunden, der sie eine Weile aushält, und da ist sie abgehauen.«
»Sie meinen also, aus der Via di Torricola könne man einfach so abhauen?«
»Was meinen Sie denn, wo Sie doch so gut über alles Bescheid wissen?«, gab er ironisch zurück und blies ihr den Rauch ins Gesicht.
Du darfst ihn nicht anrühren, Giulia. Nicht hier, nicht jetzt.
Piccolo stand auf.
»Wir werden Ramona finden«, sagte sie. Dann sah sie ihm fest in die Augen und säuselte mit engelsgleicher Miene: »Hoffentlich stößt ihr in der Zwischenzeit nichts zu.«
Im Flur traf sie Marchese, dessen Schicht nun zu Ende war. Gefolgt von Coppola gingen sie hinaus. Obwohl es fast halb zehn war, wollte der Verkehr nicht abnehmen. Im strömenden Regen überquerten sie einen Zebrastreifen und wurden von Autos und Motorrädern bedrängt, die gar nicht daran dachten anzuhalten. Die Bar war voller Menschen, fast alles verspätete Angestellte, die noch in aller Seelenruhe hier frühstückten. Auch ein paar Ausländer im Blaumann.
»Diese Rumänen trinken schon um diese Uhrzeit Bier!« Coppola konnte seine Geringschätzung nicht verbergen.
Der Zwerg gab sich väterlich, und Marchese war außerhalb der Dienstwache gleich viel entspannter. Piccolo ließ die beiden in der Bar zurück, damit sie einen
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