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Du bist das Boese

Du bist das Boese

Titel: Du bist das Boese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Costantini
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unverdorben und natürlich.
    Sie könnte meine Tochter sein. Und sie würde mich auslachen, wenn ich versuchen würde, sie anzubaggern …
    Schon seit Jahren nahm die Zahl seiner Eroberungen stetig ab. Er war einfach nicht mehr in der Lage, Menschen leichtfertig zu verletzen und sein Gewissen auszuschalten. Ganz allmählich hatten sich die selbst auferlegten Verbote immer weiter ausgedehnt: keine verlobten oder verheirateten Frauen, aber auch keine Singlefrauen, die noch in dem Alter waren, sich Hoffnungen zu machen. Im Endeffekt ließen die moralischen Skrupel und der physische und psychische Verfall die Auswahl auf Wohltäterinnen und Huren zusammenschrumpfen.
    Ihm blieb noch eine gute halbe Stunde, bis seine beiden engsten Mitarbeiter kamen, Corvu und Piccolo. Wie jeden Tag begann er mit Routinekram. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, ohne sie anzuzünden, startete den PC und kontrollierte seine Post. Nur die beiden wichtigsten E-Mails, wie jeden Morgen. Die erste war von Graziano Corvu: »Aktueller Stand der Ermittlungen«. Eine Rekapitulation der Faktenlage sämtlicher Untersuchungen, die in den vergangenen zwei Jahren eingeleitet und noch nicht abgeschlossen worden waren, neue Erkenntnisse rot markiert. Es waren nur vier Fälle, drei jüngere und der Fall Samantha Rossi – der Fall R.
    Lediglich eine Neuigkeit war zu verzeichnen: In der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember war vor dem Nachtclub Bella Blu, hinter der Via Veneto, ein junger Senegalese erstochen worden. Papa Camarà, Bodybuildingtrainer in einem Fitnessclub namens Sport Center, hatte abends als Türsteher im Bella Blu gejobbt. Gegen halb drei Uhr nachts, kurz vor der Messerstecherei, war es am Eingang der Bar zu einer Auseinandersetzung zwischen Camarà und einem noch nicht identifizierten Motorradfahrer gekommen. Der Geschäftsführer des Bella Blu, ein gewisser Francesco Ajello, ein Rechtsanwalt, hatte die Polizei gerufen.
    Balistreri machte sich Notizen auf einem Post-it, das er auf seinen Schreibtisch klebte, und steckte sich die zweite Zigarette des Tages an. Die andere E-Mail kam von seiner Mitarbeiterin Giulia Piccolo: »Neuigkeiten«. Die Sondereinheit Ausländer befasste sich nicht nur mit Straftaten, sondern mit allen Vergehen oder ermittlungsrelevanten Tatbeständen, an denen Ausländer beteiligt waren. Schlägereien mit Schwerverletzten, Entführungen, Vermisstenanzeigen. Während der Feiertage waren die E-Mails von Piccolo immer recht knapp ausgefallen, da in der Weihnachtszeit nichts wirklich Gravierendes geschah. Frauen, denen beim Shoppen die Handtasche entrissen wurde, Geschäftsbesitzer, die um ihre Tageseinnahmen gebracht wurden, Halbwüchsige, die sich in den Ferien langweilten und die Zeit mit Ladendiebstahl im Einkaufszentrum totschlugen, erfrorene Obdachlose, Streitigkeiten unter Familienangehörigen, die verschiedenen Ethnien angehörten und unvorsichtigerweise zum Fest zusammengekommen waren, und dann natürlich Verkehrsunfälle, verzehnfacht durch erhöhten Feiertagsverkehr und übermäßigen Alkoholgenuss. Banalitäten, mit denen man leben konnte. Nichts, was besondere Aufmerksamkeit verdiente.
    An diesem Tag gab es nur eine einzige Meldung: »Rumänische Prostituierte gibt gestern Morgen Vermisstenanzeige auf, Freundin am Abend des 24. Dezember verschwunden.« Noch ein Post-it.
    Hinter den Rollläden, die Balistreri heruntergelassen hatte, erwachte die Stadt träge zum Leben. Er ließ nur die Tischlampe brennen und legte eine CD von Leonard Cohen ein, ganz leise. Sein behandelnder Psychiater hatte ihm geraten, auch von Cohen, Lennon und De André Abstand zu nehmen und sie eine Weile in der Erinnerung versauern zu lassen. Er ging zu dem Ledersofa, das, abgewetzt und aufgerissen wie es war, bestens zu seiner Gemütslage und seinem gegenwärtigen Zustand passte, streckte sich darauf aus und nickte ein. Im Traum zündete er sich eine Zigarette an.
    Um Punkt halb acht betraten die beiden jungen Vicecommissari gemeinsam das Zimmer. Die Pünktlichkeit und die absolute Hingabe waren ihnen gemein. Was den Rest anging, konnten sie unterschiedlicher nicht sein.
    Graziano Corvu kam aus einem kleinen Nest in der sardischen Provinz. Seine Familie war arm. Er hatte wie ein Verrückter gepaukt und in Cagliari sein Mathematikstudium mit Auszeichnung abgeschlossen. Schon im Polizeidienst, hatte er abends noch einen Master of Business draufgesetzt. Als Jüngster von fünf Söhnen war es ihm in die Wiege gelegt, Sympathien zu

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