Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
beruht auf Machtstrukturen
Unsere Familienstrukturen sind seit Jahrhunderten von einem autoritären Machtgefüge geprägt, vergleichbar mit einem totalitären System. Wer in diesem Machtsystem der Familie »funktionierte« und sich anpasste, konnte sich sicher fühlen. Wer sich jedoch nicht unterordnete, seinem Autonomiedrang und seinen individuellen Wünschen nachging, kurz: wer diese Ordnung hinterfragte, sah sich extremen Repressionen ausgesetzt, die nur ein einziges Ziel hatten: denjenigen, der ausscherte, wieder passgerecht für das System Familie zu machen.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird der Individualität und persönlichen Entwicklung des Einzelnen mehr Bedeutung beigemessen. Die Frauen begehrten auf und stellten hierarchische Strukturen und ihre Position darin mit Erfolg infrage. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde so die autoritäre Struktur geschwächt, die in nahezu allen politischen und sozialen Bereichen der Gesellschaft herrschte, und sie wich zunehmend demokratischen Formen. Diese Entwicklungen führten auch dazu, dass sich die innerfamiliären autoritären Machtstrukturen lösten und dynamischer wurden.
Grundsätzlich allerdings wurden diese Strukturen des Systems Familie bis heute nicht hinterfragt. So ist das Verhältnis zwischen Erziehendem und Erzogenem nach wie vor von Herrschafts- und Machtstrukturen geprägt, in der die Rollen klar verteilt sind. Macht und Gehorsam sind in diesem Modell immer noch die Grundprinzipien. Sie charakterisieren das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Die Kinder sind in diesem Verhältnis als Abhängige quasi »gefangen« und in ihrer Rolle »gefesselt«. Sie können sich – anders als ehedem die Frauen – nicht aus eigener Kraft befreien.
Dass Erziehung den Gehorsam des Zöglings verlangt, macht den Kern auch heutiger Erziehungsstile aus – unabhängig davon, ob sie sich demokratisch oder autoritativ nennen. Das Machtverhältnis als solches löst sich nicht auf, wenn in dem einen Modell mehr auf die Bedürfnisse des Kindes eingegangen wird als in einem anderen. Disziplinierung und Unterwerfung sind auch heute noch die Mechanismen von Erziehung. Und immer beinhaltet Erziehung eine von uns gesetzte Verhaltenserwartung an das Kind. Das Verhängnisvolle daran ist: Wenn eine Beziehung zwischen Eltern und Kindern auf Grundlage eines Machtverhältnisses begründet ist, das auf Disziplinierung, Durchsetzung eigener Interessen und Anpassung der Kinder an ein von Erwachsenen gewolltes Verhalten setzt, kann die gesamte Autonomieentwicklung und das Wachstum jedes Einzelnen in der Familie hierdurch beeinträchtigt und gestört werden. Es kann sich so kaum eine unbelastete, vertrauensvolle, nahe und persönliche (Liebes-)Beziehung entwickeln.
3. Erziehung ist Gewalt
Weil Erziehung im Kern Unterdrückung und Machtausübung bedeutet und auf der Abhängigkeit des Kindes beruht, ist sie zwangsläufig auch offen für die Ausübung von Gewalt. Die Geschichte der erzieherisch legitimierten Gewalt ist dabei genauso traurig wie die dramatischen physischen und psychischen Angriffe auf die Menschenwürde und die Integrität von Kindern, von denen wir immer wieder erfahren. Die Vergewaltigung des Kindes hat die gleiche Quelle wie der Klaps und der Liebesentzug. Nämlich eigene unverarbeitete Gewalterfahrungen.
Gewalt ist traumatisierend! Trauma kann verstanden werden als Bruch im Kontakt zu anderen Menschen, zu sich selbst und zu den eigenen Empfindungen/Gefühlen, der entsteht, weil bei Überreizung des Nervensystems das natürliche Reaktionsmuster von Orientierung, Flucht, Kampf und Erstarrung zwar abgerufen, aber nicht oder nur unvollständig vollzogen und die vom Körper zur Verfügung gestellte »Überlebensenergie« nicht vollständig aufgelöst werden kann. Traumata entstehen unter anderem durch Vernachlässigung, harte Sanktionierungen in der Kindheit, Liebesentzug und auch durch körperliche, sexualisierte und seelische Gewalt und führen zu schweren Beschädigungen der kindlichen Psyche.
Kinder, die unter der Ausübung elterlicher Macht gelitten und auf diese Weise psychische oder physische Gewalt erfahren haben, werden diese später in ihren Beziehungen kopieren und schlimmstenfalls an ihre Kinder weitergeben. Es wirkt in diesem Zusammenhang fast zynisch, wenn der Ruf von entrüsteten Erwachsenen (Politikern, Eltern, Richtern) nach härteren Strafen für gewalttätige Kinder und Jugendliche laut wird. Denn sind es nicht letztlich wir selbst, die
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