Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
diese Symptome der Kinder durch unser Tun säen? Auch wenn wir nicht selbst Gewalt ausüben, so lassen wir sie doch zu. Wir müssen uns gesamtgesellschaftlich auf einen neuen Konsens verständigen, der da lautet, dass ein Kind ohne psychische und physische Gewalt aufwachsen darf. Wenn wir beginnen zu verstehen, dass wir Erwachsenen an diesem Punkt immer die Verantwortung tragen, können wir letztendlich auch Verantwortung für unser Tun übernehmen und müssen sie nicht (mehr) auf die Kinder abschieben. Anders können wir nicht ausbrechen aus einem Kreislauf, in dem sich Gewalt als legitimiertes Erziehungsmittel von Generation zu Generation fortschreibt.
4. Erziehung setzt auf Gehorsam
Erziehung verlangt den Gehorsam des Kindes und offenbart damit emotionale Inkompetenz. Denn Erwachsene nutzen das Machtverhältnis in der Erziehung, um Konflikte zu vermeiden oder zu »lösen«. Kann der Erwachsene in einem Konflikt nicht bestehen – sei es, dass er emotional überfordert, psychisch entkräftet oder mental belastet ist – oder seine eigenen Interessen nicht durchsetzen, zieht er sich auf die Position des Stärkeren zurück und verlangt Gehorsam.
Erziehung zum Gehorsam verbleibt an der Oberfläche und weicht Konflikten nur aus. »Ungehorsam« ist meist der erste Schritt der Kinder hin zu Autonomie und Eigenverantwortlichkeit. Wenn Kinder ungehorsam sind, ist das kein persönlicher Angriff auf die Erwachsenen, vielmehr ein wichtiger Bestandteil der natürlichen Entwicklung. Kinder brauchen jedoch Orientierung, Begleitung und Führung durch Erwachsene. Es kommt dabei auf die Qualität der Beziehung an. Die Führung durch Gehorsam wird durch eine verantwortungsvolle Führung der Erwachsenen abgelöst. Statt Konflikte zu vermeiden und zum Gehorsam zu erziehen, ist es heute wesentlich für ein gesundes Aufwachsen von Kindern, dass Erwachsene ein Verantwortungsbewusstsein entwickeln, sich zutrauen, Konflikte in den Beziehungen zu Kindern zu lösen und dabei die Kinder als gleichwertige (Konflikt- und Dialog-)Partner anzuerkennen.
5. Erziehung ist unpersönlich und dient nur den Erwachsenen
Kein Kind braucht Erziehung – aber Erwachsene bedienen sich ihrer trotzdem. Weil Erziehung wie ein Schutzmechanismus wirkt, der Erwachsene vor den bedrohlichen emotionalen, psychischen oder mentalen Herausforderungen des Kindlichen schützt. Erziehung ermöglicht es dem Erwachsenen, seine eigenen emotionalen Beschädigungen zu verbergen und die Angst vor der Offenbarung eigener Verletzlichkeit zu überspielen. Der Erwachsene verbirgt aus Angst vor eigener Unzulänglichkeit seine eigentliche Persönlichkeit hinter »erzieherischen Notwendigkeiten« und bleibt so als Mensch mit seinen authentischen Gefühlen für das Kind unsichtbar. Für Erwachsene gibt es deshalb Tausende Gründe, ein Kind zu erziehen, für Kinder gibt es keinen einzigen Grund, erzogen zu werden.
6. Erziehung nimmt Eltern Verantwortung
Deutlich wird die Funktion von Erziehung vor allem in der Ratgeberliteratur. Das Gros der Erziehungsratgeber dient nicht den Interessen der Kinder, sondern ist ganz offensichtlich nur dazu da, es den Erwachsenen einfacher zu machen. Viele Ratgeber sprechen davon, dass Kinder Grenzen brauchen. Dass Kinder jedoch auch eigene Grenzen haben, die nicht verletzt werden sollten, davon ist nur selten die Rede. Denn natürlich ist es einfacher, Dressurmethoden anzuwenden und vom Kind zu verlangen, dass es gehorcht. So wird Erziehung zu Verhaltensanpassung, die oft mit einem Angriff auf die Integrität des Kindes einhergeht und dessen ureigene Grenzen verletzt.
Zu solchen Büchern greifen Erwachsene besonders gern in Phasen, in denen sie Angst haben, die Kontrolle zu verlieren. Sie tragen dazu bei, Eltern weiter zu verunsichern, und gaukeln ihnen vor, es gäbe im Umgang mit Kindern allgemeingültige Vorgaben, ein »Richtig« und ein »Falsch« und Regeln, deren Befolgung dazu führt, dass Kinder (und damit das gesamte Familienleben) gut »funktionieren«. Wer sein Kind mithilfe von Ratgebern erzieht, gerät in die Gefahr, seine elterliche Verantwortung an diese Ratgeber abzugeben.
7. Erziehung beschneidet Potenziale
Eltern bestimmen und entscheiden häufig für Kinder, auch wenn diese längst selbst für sich entscheiden und Verantwortung übernehmen können. Dadurch verhindern sie, dass Kinder lernen, mit dem Leben umzugehen und Erfahrungen zu sammeln – genauso wie es diesen Eltern selbst als Kindern ergangen ist. Und auch Erwachsene
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