Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
dieser Zeit beachtet ihn seine Mutter nicht besonders, sie spielt mit Ben. Marius schaut sehnsüchtig zu seinem kleinen Bruder. Bald hat er es geschafft. Er darf den Stuhl verlassen. Seine Mutter lobt sein Verhalten, und er darf wieder mitspielen.
Hier sind Grenzen als bestimmte Regeln innerhalb der Familie definiert worden. Marius kennt diese internen »Spielregeln«. Er weiß auch, was geschieht, wenn er sie übertritt. Er hat eine Regel gebrochen (»Wir nehmen einander nichts weg«), und um diese Grenze deutlich zu machen, setzt seine Mutter ein autoritäres Mittel ein. Werden hier nun Sicherheit und Geborgenheit für Marius spürbar? Sicherheit ist hier insofern ein Aspekt, als er sich darauf verlassen kann, dass er – sobald er sich nicht so verhält, wie seine Mutter es von ihm erwartet bzw. die Regeln es verlangen – auf den »stillen Stuhl« muss, um seine Strafe dort abzusitzen. Ein Gefühl der Geborgenheit wird sich bei dieser Form der Grenzsetzung nicht einstellen, weil die Mutter als eine Art Polizist auftritt. Sobald eine Regel verletzt, eine Grenze übertreten ist, fungiert sie als Gesetzeshüter und Richter zugleich. Sie benennt die verletzte Regel, spricht das Urteil und verkündet die Strafe. So bleibt diese Beziehung unpersönlich und sachlich.
Dabei ist das Familienleben nicht mit dem Straßenverkehr vergleichbar. Es ist nicht zu steuern über einen Regelkatalog und durch die Ahndung von Grenzüberschreitungen und Regelbrüchen. In der Familie sind die Beziehungen nah und warm. Hier stehen Austausch und Miteinander im Vordergrund, und dazu gehören auch Konflikte, die es dann zu lösen gilt. Es geht hier also darum, zu verstehen, wie sich Marius fühlt, wenn sein kleiner Bruder seine sorgfältig aufgebaute Eisenbahn zerstört, oder wie sich Ben fühlt, wenn er etwas weggenommen bekommt.
Die emotionale Ebene jedoch spielt in der hier dargestellten Szene keine Rolle. Marius empfängt die Botschaften:
Ich bin hier so, wie ich bin, nicht erwünscht. So wie ich bin, werde ich nicht gemocht und nicht geliebt.
Meine Gefühle sind nicht wichtig und nicht richtig.
Meine Bedürfnisse werden ignoriert.
Geschwisterkinder
Während das erste Kind in eine Paarbeziehung hineingeboren wird, kommt jedes weitere Kind in eine bereits bestehende Familie. Die gesamte Konstellation verändert sich mit Ankunft des Neugeborenen, alle Familienmitglieder müssen sich neu sortieren, Rollen müssen sich anders verteilen und neu finden. Die Geburt eines Geschwisterkindes ist deshalb nicht nur für die Eltern ein einschneidendes Erlebnis, sondern stellt auch für das erstgeborene Kind neben der Freude, die es empfindet, eine große Herausforderung dar. Neben der Notwendigkeit für das ältere Kind, eine neue Rolle finden zu müssen, ist diese Phase von schmerzhaften Verlustgefühlen geprägt. So stellt es mit einem Mal fest, dass ihm die elterliche Aufmerksamkeit, insbesondere die der Mutter, nicht mehr ungeteilt zukommt, was zu tiefer Verunsicherung führen kann. Es fühlt sich (zu Recht) von einem Moment auf den anderen nicht mehr im gewohnten Maße beachtet und deshalb womöglich weniger geliebt.
Die Angst, die Liebe der Eltern zu verlieren, wird von Kindern in diesem Moment als existenziell bedrohlich empfunden. Es ist aus diesen Gründen nachvollziehbar, dass ältere Geschwister ambivalente, manchmal auch negative Gefühle gegenüber dem Neuankömmling entwickeln können und auch wütend auf den kleinen Menschen werden, der ihnen, wie sie glauben, die Mutter oder den Vater wegnehmen könnte. Diese Gefühlsausbrüche können sehr heftig sein, da sie ihre Gefühle noch nicht in Worte fassen können. Wenn sie selbst noch jünger sind, kann sich ihre Eifersucht in Form von kleinen Tätlichkeiten gegen das Baby äußern: Sie kneifen, werfen mit Dingen nach ihm und schlagen vielleicht auch ganz explizit vor, das Baby lieber wieder »zurückzugeben«.
Ältere Kinder, die schon vertrauter sind mit den Verhaltenserwartungen des sozialen Umfelds, äußern ihre Eifersucht vermutlich nicht so explizit, selbst wenn sie sie bereits in Worte fassen könnten. Aber sehr wahrscheinlich haben auch sie entsprechende Gefühle und sind emotional verunsichert. Manche Kinder verändern dann ihr Essverhalten, manche werden in der Schule unaufmerksamer, manche zeigen kleine Aggressionen gegen ihre Eltern oder Geschwister.
Es ist wichtig, dass Eltern hier zum einen das Neugeborene unaufgeregt schützen und eventuell mit erhöhter
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