Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
anderen Licht:
Tobias ist sehr früh eingeschult worden. Mit fünf Jahren wurde für ihn mehrstündiges Stillsitzen zum Alltag. Die überfüllte Klasse, das Lernen in kleinen Räumen und die plötzliche Anforderung, leise und konzentriert zu arbeiten, überforderten ihn offensichtlich und widersprachen seinem entwicklungsgerechten Bedürfnis, sich körperlich viel zu bewegen. Dieser Umstand allein jedoch ist nur ein Puzzleteil von mehreren. Bezieht man auch den familiären Beziehungshintergrund mit ein, so ist gleichzeitig zum Schuleintritt auch zu Hause eine völlig veränderte Situation entstanden. Tobias’ Eltern haben sich getrennt, was ihn vor die Bewältigung neuer Aufgaben stellt.
Trennungskinder
Wenn sich Eltern trennen, stürzt für Kinder oft ihre Welt zusammen. Eine Trennung bedeutet einen tiefen Einschnitt; die feste Familienstruktur, in der sie Geborgenheit gefunden hatten, bricht auseinander. Kinder werden deshalb immer gegen die Trennung ihrer Eltern sein, selbst wenn die Streitigkeiten, die der Trennung vorausgegangen sind, sie sehr belastet haben. Kinder werden in dieser Zeit mit vielen Ängsten konfrontiert, die sie oft nicht auszusprechen wagen. So haben sie Angst, einen Elternteil zu verlieren. Auch fürchten sie, dass sie selbst womöglich der Grund für die Trennung der Eltern sein könnten. Dass Kinder in diesen Phasen ein auffälliges Verhalten zeigen, ist keine Seltenheit. Manche ziehen sich zurück, sitzen stundenlang in ihrem Zimmer, die Eltern kommen nur noch schwer an sie heran. Andere begegnen der inneren Orientierungslosigkeit, der sie ausgeliefert sind, mit aggressivem Verhalten. Je verletzender die Eltern miteinander umgehen, desto stärker fällt in der Regel die Aggressivität der Kinder aus.
Im Eltern-Kind-Verhältnis muss sich nun die Beziehung neu justieren, Grenzen müssen verschoben und neu bestimmt werden. Die Grenzen sind zunächst unklar, was bei den Kindern Unsicherheit auslösen kann. Häufig haben Eltern aufgrund der eigenen Trennung auch wenig Kraft, die damit einhergehenden Schuldgefühle zu verarbeiten, und setzen – das verunsichert alle Beteiligten zusätzlich – bisher geltende Grenzen anders. So passiert es immer wieder, dass Elternteile, die nun allein sind, ihr Kind als eine Art neuen Partner ansehen oder zumindest als Gesprächspartner nutzen und mit ihm ihre eigenen Sorgen und Verletzungen teilen. Parentifizierung nennt man dieses Phänomen, wenn die eigentlich gute Bindung zwischen Eltern und Kind extrem gestört und durch die Eltern in eine ungute Bindung überführt wird, was das Kind wiederum überfordert. Bei ihm entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Verantwortungsgefühl für den Elternteil und dem gleichzeitigen Mangelzustand auf emotionaler Ebene. Wichtige emotionale Bedürfnisse des Kindes treten in den Hintergrund.
Wenn wir nun das Gesamtbild betrachten, dann sehen wir einen extrem verunsicherten, verzweifelten Jungen, der von einer großen inneren Unruhe getrieben wird und große Schwierigkeiten hat, den Anforderungen im Alltag gerecht zu werden. So kann er sich schlecht konzentrieren, ist ungeduldig und wird schnell laut. Aus dem Beziehungszusammenhang heraus erscheint sein Verhalten jedoch durchaus nachvollziehbar. Er hat eine seiner wichtigsten Bezugspersonen verloren, sein Vater ist ausgezogen. Tobias ist verzweifelt und trauert. Und es quälen ihn Schuldgefühle und zahlreiche Fragen, die ihn offensichtlich kaum zur Ruhe kommen lassen:
Warum haben sich meine Eltern immerzu gestritten? Warum haben sie sich jetzt auf einmal nicht mehr lieb? Warum wohnt Papa nicht mehr bei uns? Habe ich dazu beigetragen oder bin ich gar der Grund dafür und vielleicht selbst schuld an allem? Wenn ja, wie hätte ich das verhindern können, und wie kann ich es jetzt wiedergutmachen? Sind meine Eltern mir böse? Wann sehe ich Papa wieder? Wenn er Mama nun nicht mehr lieb hat, vielleicht hat er mich auch nicht mehr lieb? Und hat Mama mich noch lieb?
Solche und ähnliche Gedanken beschäftigen Tobias und belasten seine kindliche Seele. Er ist verwirrt, durch die Trennung schwer erschüttert und verliert an emotionaler Sicherheit. Die tiefe Verbundenheit zum Vater, aber auch die zu seiner Mutter ist auf eine harte Probe gestellt. Nicht die Trennung an sich ist zunächst das Problem – schwierig ist für ihn, wie seine Eltern mit ihrer Trennung umgehen. Sie streiten für Tobias wahrnehmbar um den Verbleib der Kinder, und es ist lange unklar, wo Tobias
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