Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
zu seelischen (und erst einmal nicht sichtbaren) Verletzungen. Auf diese müsste die Umwelt eingehen und Rücksicht nehmen. Mehr noch. Sie sollte unterstützend wirken. Hätte sich Tobias sichtbare Verletzungen zugezogen und sich etwa bei einem Fahrradunfall ein Bein gebrochen und die rechte Hand gestaucht, bekäme er in der Klasse vermutlich einen zweiten Stuhl zum Hochlegen für sein Bein, und ein Mitschüler würde eventuell Arbeitsblätter mit ihm gemeinsam ausfüllen, weil er seine rechte Hand nicht benutzen kann. Seelisch-emotional ist Tobias genauso verletzt, nur dass man eine Seele nicht gipsen oder bandagieren kann. Wenn wir um die Verletzungen und den inneren Zustand der Kinder jedoch wissen, können wir diese genauso ernst nehmen wie einen körperlichen Schaden. Mit unserer Rücksichtnahme und unserem Verständnis, die als Bandage für die Seele dienen können, vermögen wir unseren Kindern bei emotionalen Belastungen ebenso gut zu helfen wie bei körperlichen Schmerzen.
Natürlich zeigen Kinder Symptome und auffälliges, für die Umwelt herausforderndes Verhalten, das bestreite ich nicht. Für mich stellt sich allerdings die Frage, wie Erwachsene damit umgehen. Wir geben Pillen! Aber nur weil wir die Zusammenhänge zwischen Symptom und Ursache beim ersten Hinsehen oft nicht deuten können und nur, weil wir einfach ein für uns störendes Verhalten abstellen wollen, nur weil es uns zu mühselig erscheint und wir die Zeit nicht aufbringen wollen oder können, uns damit zu beschäftigen, wie es dem Kind tatsächlich geht und wer das Kind wirklich ist, kurz: weil wir es uns zu leicht machen – deshalb bewerten, kategorisieren und diagnostizieren und im schlimmsten Fall medikamentieren wir. Wir ordnen nach Symptomen, klassifizieren Verhaltensmerkmale und diagnostizieren Störungen. Und das immer mit der Überzeugung, dass wir dann endlich bei genauer Diagnose die Methode (er-)finden, das Kind so zu behandeln, dass es möglichst schnell wieder passgerecht für unsere Welt wird. Dafür nehmen wir sogar in Kauf, dass gesunde Kinder krank werden.
Es ist aus meiner Sicht ein Skandal: Wir geben Kindern Medikamente und manipulieren so natürliche kindliche Impulse. Viel zu schnell geben wir auf und behandeln ausschließlich die Symptome, die uns am Kind stören, die eine ganze Gesellschaft stören! Was nicht passt, wird passend gemacht!
Ich weiß, wie schwer es für Eltern sein kann! Dennoch: Sie sollten sich nicht unter Druck setzen lassen, nicht von der Schule, nicht von Ärzten – sie dürfen sich hinter ihre Kinder stellen, denn sie haben ganz besondere Kinder, die sich vielleicht nicht gut anpassen lassen und trotzdem – oder genau deshalb – eine gute, liebevolle Begleitung von zu Hause brauchen.
Die Beiträge der Hirnforschung zur Pädagogik
Auf den Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Hüther bin ich aufmerksam geworden, weil er aus naturwissenschaftlicher Sicht zu neuen Erkenntnissen im Bereich der Hirnforschung bei Kindern gekommen ist, die auch für meine pädagogische Arbeit von großer Relevanz sind. So sehe ich einiges, was ich in der Praxis an Erfahrungen gemacht habe, durch diese neuen Erkenntnisse aus der Hirnforschung bestätigt und ergänzt und kann verschiedene Phänomene noch besser einordnen und verstehen. Die Naturwissenschaft liefert hilfreiche grundlegende hirnorganische und physiologische Informationen, die von Fachleuten (Pädagogen, Psychologen, Psychiatern, Kinderärzten, Lehrern, Erziehern) für die pädagogisch-therapeutische Arbeit, die ärztliche Versorgung und insgesamt für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in den unterschiedlichsten Bereichen genutzt werden können. Gerade deshalb empfinde ich es als wichtig, dass sich die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gegenseitig vernetzen und dass durch diese Verknüpfung ein fruchtbarer Dialog und ein Austausch im Sinne des Forschungsgegenstandes, also der Kinder, entstehen können. So kann die Pädagogik von den Erkenntnissen der Hirnforschung direkt profitieren und wichtige Schlüsse für die praktische Arbeit ziehen.
Gerald Hüther wird nicht müde, die modernen Erkenntnisse der Hirnforschung einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und sie auch direkt in die Praxis zu tragen. So vertritt er die für viele Menschen erst einmal provokante These: Jedes Kind ist hochbegabt! Nicht die Gene entscheiden über Intelligenz, Dummheit oder Faulheit, sondern entscheidend sei, welche Möglichkeiten aus dem riesigen
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