Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Hubertus von Voss, der langjährige Leiter des Kinderzentrums in München, »nicht alle Ärzte halten die Richtlinien der Fachgesellschaften ein.« Auch bestätigte die Arzneimittelkommission der Apotheker im Jahr 2011, dass die Forschung für die Arzneisicherheit bei Kindern noch in den Anfängen stecke, was das gesundheitliche Risiko für die entsprechenden Kinder zusätzlich erhöhe.
Vor allem Jungen scheinen von der Inflation der ADHS-Diagnosen betroffen. Die Frage, mit der sich Eltern von betroffenen Kindern zwangsläufig auseinandersetzen müssen: Wie gehen sie mit dieser Diagnose um? Und: Stimmen sie einer Medikamentierung zu, wie sie von fast allen Kinderärzten und -psychiatern empfohlen wird?
Tobias (sechs Jahre, zweite Klasse)
Tobias’ Mutter kommt in die Elternberatung und stellt ihren Sohn vor. Bei ihm sei vor einem halben Jahr die ADHS-Störung diagnostiziert worden. Er sei sehr lebendig, habe eine große innere Unruhe, könne sich sehr schlecht konzentrieren und nicht lange bei einer Sache bleiben. Ständig sei er in Bewegung. Er werde schnell laut und auch ungeduldig, wenn ihm etwas nicht gelinge. Oft sprenge er mit seiner Unruhe beziehungsweise seinem gesamten Verhalten die Stunde, so berichten die Lehrer. Das Spielen in Gruppen sei ihm manchmal auch schon im Kindergarten schwergefallen, die Konzentrationsstörung jedoch sei erst in der Schule aufgetreten. Wegen seiner schlechten Noten ist der Zweitklässler nun zurückgestuft worden. Seine Mutter wirkt besorgt: »Wenn das so weitergeht, dann gerät er noch auf die schiefe Bahn.« Tobias’ Mutter stellt sich die Frage, ob sie nun – jetzt, wo Tobias die erste Klasse wiederholt – nicht doch Medikamente geben solle. Die Schule rät dazu – und sie ist verunsichert.
Ich kann die Unsicherheit von Tobias’ Mutter gut nachvollziehen. Sie steht unter Druck, und die Aussicht, dass sich das Verhalten von Tobias durch die Einnahme von Medikamenten positiv verändert (er also nicht mehr stört), die Schulnoten sich verbessern und er so nach langer Zeit auch wieder Erfolgserlebnisse haben kann, lässt sie die Möglichkeit einer Ritalingabe in Betracht ziehen.
Viele Eltern befinden sich in demselben Dilemma wie Tobias’ Mutter, und viele entscheiden sich – auf Anraten der Ärzte und häufig auch auf Druck der Schule – für die Verabreichung von Ritalin. Allerdings sollten sich Eltern bewusst sein, dass sie die Verantwortung dafür tragen, was dieses Medikament mit ihren Kindern macht. Die Nebenwirkungen von Ritalin nämlich sind vielfältig: Schlafstörungen, Essstörungen, Bluthochdruck und vermindertes Wachstum sind nur die mittlerweile bekanntesten.
Und Verantwortung tragen müssen Eltern auch dafür, dass sie mit Ritalin nur eine oberflächliche Lösung finden, weil nur die Symptome behandelt werden. Zwar wird vordergründig »Ruhe« hergestellt, oft verbessern sich sogar die Leistungen in der Schule – die eigentlichen Ursachen aber, die zu den Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes geführt haben, bleiben unbeachtet und deshalb auch weiter bestehen.
Wie kommt es überhaupt dazu, dass wir ADHS als Krankheit diagnostizieren? In den späten sechziger Jahren begann es: Kinder mit störendem Verhalten und schwacher Konzentration fielen in den Schulklassen immer mehr auf. Die Fachwelt wurde aufmerksam und nahm das bislang nur als »Zappelphilipp-Syndrom« bekannte Verhalten genauer unter die Lupe. Auch der US-amerikanische Psychiater Leon Eisenberg setzte sich mit den Symptomen auseinander und identifizierte schließlich das ADHS-Syndrom, dem er genetische Ursachen zuschrieb. Erst 1987 (!) wurde diese Diagnose überhaupt in das US-amerikanische »Diagnostische und Statistische Handbuch für Psychische Störungen (DSM-III-R)« aufgenommen. Was in diesem Zusammenhang auffällt, ist, dass zu diesem Zeitpunkt schließlich eine Krankheit formell bestätigt wird, deren Symptome es schon lange gibt und die bislang nicht als krankhaft eingeordnet wurden. Mit dieser Klassifikation als Krankheit jedoch erlangen die Symptome nun ungeahnte Bedeutung.
Gerade weil die Zahl der Diagnosen von ADHS in den vergangenen Jahren so sehr angestiegen ist, hat sich Misstrauen breitgemacht. Kann es sein, dass – wie bei einem Virus – plötzlich immer mehr Kinder infiziert werden? Die Direktorin der Kinderkinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, Ulrike Lehmkuhl, hat einen inflationären Anstieg von ADHS-Diagnosen seit
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