Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Überschuss an Vernetzungsoptionen im Gehirn durch uns Erwachsene »bedient« werden. Hüther hat neue Erkenntnisse gewonnen über die Reifung der emotionalen Zentren im Gehirn und spricht davon, dass physiologische Vernetzungen im Gehirn als Antwort auf die gemachten Beziehungserfahrungen zu verstehen sind.
Da ich seit Jahren in der praktischen therapeutischen Arbeit mit Menschen die Beziehung in den Mittelpunkt gestellt habe und der Überzeugung bin, dass es vor allem unsere Beziehungserfahrungen sind, die uns Menschen zu dem machen, was wir sind, empfinde ich diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als regelrecht bahnbrechend und richtungsweisend. Die sich auf Fakten und physiologische Prozesse stützende Naturwissenschaft kann etwas sichtbar machen, was der Pädagogik nicht möglich ist. Beziehung findet statt – sie ist spürbar, aber nicht greifbar. Dass nun neuronale Verbindungen im Hirn als Reaktion auf gemachte Beziehungserfahrungen nachweisbar sind, ist eine zwingende Begründung dafür, den Beziehungserfahrungen bei der Sozialisation von Kindern eine noch größere Bedeutung beizumessen.
Ich habe Gerald Hüther zu einem interdisziplinären Austausch getroffen, um seine Erkenntnisse aus der Hirnforschung mit denen aus der Pädagogik und Therapie zu verknüpfen und mit ihm über Fragen der Bedeutung von Beziehung für Kinder aus naturwissenschaftlicher Sicht zu diskutieren.
Wir wissen doch eigentlich, was zu tun wäre, warum tun wir es nicht?
Ein Gespräch mit dem Neurobiologen und Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther
Allgemeine Entwicklung des Gehirns
Katharina Saalfrank: Das Gehirn wird oft als Ort rationaler Entscheidungen gesehen. Sie sagen jedoch, das Gehirn sei ein »soziales Organ«. Was genau meinen Sie damit?
Gerald Hüther: Das Gehirn ist zunächst ein Körperteil. Ein Körperteil, dem wir besondere Bedeutung zuschreiben, auf das wir auch zum Teil ein bisschen stolz sind und von dem wir nun meinen, dass dort alles säße, worauf es im Leben ankommt.
Wir haben eine Zeit lang geglaubt, dass sich die Vernetzungen im Gehirn, also der innere Aufbau dieses Organs, im Wesentlichen durch die Wirkung genetischer Programme herausgeformt haben. Und deshalb haben wir auch geglaubt, dass die so entstandenen Vernetzungen der Nervenzellen später nicht mehr zu verändern seien und dass man zeitlebens mit diesem Hirn herumlaufen müsse, das man durch seine genetischen Programme bekommen hat. Und wir haben auch lange geglaubt, dass es Menschen mit besseren und mit schlechteren Programmen gebe und dass Kinder mit besseren oder schlechteren Vernetzungen im Hirn ausgestattet seien. Die einen wären dann begabter und die anderen weniger begabt – das war zumindest unsere Überzeugung.
Katharina Saalfrank: Ich kenne diese Thesen auch – das ist alles noch nicht so lange her.
Gerald Hüther: Nein, das ist noch nicht so lange her. Das habe ich als Hirnforscher ja auch selbst alles noch so gelernt. Und deshalb bin ich sozusagen Zeitzeuge dieses Transformationsprozesses, der sich innerhalb der Hirnforschung – zum Teil auch zum Erstaunen der Hirnforscher selbst – vollzogen hat.
Katharina Saalfrank: Was genau hat sich verändert?
Gerald Hüther: Es hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen, der in seinen Auswirkungen, glaube ich, gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Die neue Botschaft heißt jetzt: Genetische Programme steuern nicht die Herausbildung ganz bestimmter Vernetzungen im Gehirn, sondern sie sorgen dafür, dass zunächst Überschüsse bereitgestellt werden. Deutlich mehr Nervenzellen, als später erhalten bleiben, werden schon vor der Geburt im Gehirn erzeugt. Etwa ein Drittel davon wird dann wieder abgebaut, weil diese Nervenzellen nicht in funktionale Netzwerke eingebaut werden.
Genauso funktioniert es auch mit den Vernetzungen. Auch hier sorgen die genetischen Programme dafür, dass zunächst ein Überschuss an Vernetzungsoptionen bereitgestellt wird. In den verschiedenen Hirnregionen wird dann sozusagen gewartet, welche Beziehungsmuster zwischen den Nervenzellen aktiviert werden, und die Aktivitätsmuster, die immer wieder und regelmäßig auftauchen, stabilisieren dann die dabei genutzten Verschaltungsmuster, und alle anderen werden wieder abgebaut.
Im Frontalhirn beispielsweise, wo es besonders komplex zugeht, haben wir die gleiche Situation. Ein sechsjähriges Kind hat hier etwa ein Drittel mehr Vernetzungsangebote, als dann nach Abschluss der Pubertät noch übrig sind. Im
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