Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
dem Jahr 2001 beobachtet. Nur bei einem von zehn Kindern, welches mit einer ADHS-Diagnose zu ihr überwiesen wird, findet sie tatsächlich alle Merkmale für eine amtlich festgelegte ADHS-Diagnose vor. Bei 90 Prozent dieser jungen Patienten diagnostiziert sie hingegen eine andere Verhaltensstörung oder psychische Erkrankung.
Eine Studie der Universitäten Bochum und Basel kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Sylvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie in Bochum, die das Projekt geleitet hat, erklärt sich dieses hohe Maß an Fehldiagnosen damit, dass die Ärzte insbesondere bei Jungen häufig nach prototypischen Symptomen entscheiden – also nach solchen Symptomen, die sie als typisch für ADHS ansehen –, offensichtlich ohne sich an die gültigen Diagnosekriterien zu halten. Es unterbleibt oft der kritische Blick auf den einzelnen Fall beziehungsweise das einzelne Kind, und die »Diagnose« erschöpft sich in der Bestätigung eines Vorurteils.
Ich habe ähnliche Erfahrungen in der Familienberatung und in der Arbeit mit Kindern gemacht. Viel zu schnell werden Kinder zu Ärzten geschickt, von dort zum Facharzt weitervermittelt, und viel zu schnell ist eine ADHS-Diagnose dann gestellt, ohne die genauen Zusammenhänge zu hinterfragen und sich individuell mit dem Kind und den Anforderungen, die das Umfeld an es stellt, zu beschäftigen.
Bemerkenswert ist, dass selbst der inzwischen verstorbene »Entdecker« von ADHS als genetischer Krankheit, der Psychiater Leon Eisenberg, kurz vor seinem Tod noch eingeräumt hat, dass ihm bei seiner Arbeit ein folgenschwerer Irrtum unterlaufen ist. Ein Irrtum noch dazu, ein banaler Lapsus, der jedem hätte auffallen können, der sich näher mit Eisenbergs Forschungen beschäftigt hat. Eisenberg hatte Kindern, denen er das »Zappelphilipp«-Syndrom attestierte, Ritalin gegeben und festgestellt, dass diese Kinder in der Folge ruhiger wurden. Sein Fazit: Wenn die Kinder durch die Medikamentengabe ruhiger werden, muss eine genetische Ursache für die Störung vorgelegen haben. Eisenberg hatte allerdings versäumt, auch in seinen Augen genetisch gesunden Kindern Ritalin zu verabreichen. Hätte er das getan, hätte er festgestellt, dass sie genauso auf die Tabletten reagieren wie die als genetisch erkrankt eingestuften Kinder – und damit wäre seine Beweisführung hinfällig gewesen.
Eisenberg hatte in seinen letzten Lebensjahren einen grundsätzlichen Sinneswandel durchgemacht und die These vertreten, dass ADHS keine genetische Ursache habe, sondern eine durch die Umwelt geformte Ausprägung des kindlichen Temperaments sei. Er hielt es nun für einen Kurzschluss, die Problematik mithilfe von Medikamenten lösen zu wollen. Stattdessen müsse man nach psychosozialen Faktoren für die Symptome suchen. In einem Gespräch zum Massenphänomen ADHS, das er kurz vor seinem Tod mit dem Spiegel geführt hat, distanzierte sich Eisenberg von seiner »Jugendsünde«, zeigte sich regelrecht bestürzt darüber, welche fatalen Folgen sein falsches Forschungsergebnis hatte und bezeichnete ADHS als »Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung«. Nun machte sich Eisenberg dafür stark, vor allem das soziale Umfeld und dessen Auswirkungen in die Behandlung einzubeziehen.
Während Eisenbergs »Entdeckung« von ADHS auf so viele offene Ohren gestoßen ist, hat sein Umdenken nicht zu nachhaltigen Reaktionen geführt. Zwar gibt es in jüngster Zeit immer wieder Stimmen, die sich kritisch gegenüber dem Phänomen ADHS zeigen und die die entsprechenden Symptome nicht auf eine genetische Determinante zurückführen, sondern als gesellschaftliches Phänomen betrachten. Aber auch sie kommen mitunter zu sehr unbefriedigenden, ich würde sogar sagen: kontraproduktiven Schlussfolgerungen. Christoph Türcke etwa, der in Leipzig Philosophie lehrt, schlägt in seinem Buch »Hyperaktiv! Kinder in der Aufmerksamkeitsdefizitkultur« ein neues Schulfach vor. »Ritualkunde« nennt er es, und der Name ist Programm. Die Kinder sollen laut Türcke, den verschiedenen Lernstufen entsprechend, in Ritualen und Wiederholungen geschult werden. Prinzip ist das sture Auswendiglernen, durch das Türcke glaubt, dem universellen Konzentrationsverlust der digitalen Gesellschaft entgegensteuern zu können – er spricht davon, dass wir beständig zwanghaft damit beschäftigt seien, uns zu zerstreuen. Und diese permanente Zerstreuung produziere Stress. Kein genetischer Defekt also, sondern eine
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