Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
»Kulturstörung«, wie Türcke es nennt.
Türcke schlägt damit in dieselbe Kerbe wie der Hirnforscher Manfred Spitzer, der mit seinem Buch »Digitale Demenz« 2012 für einigen Diskussionsstoff gesorgt hat. Auch Spitzer meint, dass sich durch medial bedingtes Multitasking im Hirn zwangsläufig eine Aufmerksamkeitsstörung einstellen müsse. Und weil auch Kinder schon viel zu lange Zeit zwischen Bildschirmen und Handys verbringen, habe sich die Zahl der aufmerksamkeitsgestörten Kinder so drastisch erhöht.
Aus meiner Sicht greifen solche monokausalen Erklärungen viel zu kurz und auch daneben. Medienkonsum und Zerstreuung sind sicherlich Aspekte unserer vielfältiger werdenden Welt. Doch liegt die Ursache etwas tiefer und sind Aufmerksamkeitsstörungen nicht allein darauf zurückzuführen, dass Kinder viel Zeit mit technischen Geräten verbringen. Vielmehr ist es so, dass Kindern häufig eine stabile Beziehung oder auch die Verbundenheit in einer Beziehung fehlt; und vor allem in Beziehungen zu anderen Menschen entwickeln Kinder ihre sozialen, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten.
Natürlich können wir uns gegenseitig sagen, dass die neuen Medien für die Symptome der Zerstreuung verantwortlich sind. Und ganz sicher ist es auch eine Herausforderung, Kinder an unsere beschleunigte Welt heranzuführen. Verantwortung für die Begleitung der Kinder auch beim Umgang mit Medien tragen wir Erwachsenen ebenso wie für die Qualität der Beziehung zu unseren Kindern. Die Frage ist also: Was tun die Kinder sonst noch und wie viel Zeit nehmen wir uns für die Beziehung zu ihnen? Denn Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern. Der Austausch, unsere Rückmeldungen, Reaktionen, unsere Haltung und unsere Positionierungen sind wesentlich für Kinder – sie hinterlassen Eindruck und geben ihnen insgesamt Orientierung. Wenn das fehlt, verarmen Kinder emotional. Die Frage ist, ob wir bereit sind, diese Verantwortung zu tragen und uns ihr mit allen Konsequenzen zu stellen.
Jedes »ADHS-Kind«, das ich kennengelernt habe, hatte einen Grund für sein Verhalten. Wenn ich mir das Umfeld und das Beziehungsgeflecht der Kinder und ihrer Familien angeschaut hatte, konnte ich immer nachvollziehen und verstehen, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten.
Fortsetzung: Tobias (sechs Jahre, zweite Klasse)
Tobias’ Mutter macht weitere Angaben zur Situation in der Schule: Ihr Sohn sei bereits mit fünf Jahren eingeschult worden. Das Einleben sei ihm schwergefallen, er mag die Schule nicht. Er sei eigentlich gut in die Klassengemeinschaft integriert. Allerdings habe es jetzt Ärger in der Klasse gegeben, weil Tobias einem Jungen, der ihn nicht zu seinem Geburtstag eingeladen hatte, vor die Brust gestoßen und übel beschimpft habe. Danach habe es sogar eine Klassenkonferenz gegeben. Tobias beschwere sich oft, dass es zu laut in der Klasse sei und dass er so lange still sitzen müsse – er wolle lieber toben. Er liebe die Bewegung und sei ein quirliger, zierlicher, eigentlich freundlicher Junge. Sport sei sein Lieblingsfach. Zweimal wöchentlich gehe er in einen Turnverein, wo er seinen Bewegungsdrang ausleben könne.
Tobias’ Mutter erzählt von ihrer familiären Situation: Sie sei verheiratet, jedoch seit einem Jahr von ihrem Mann getrennt. Es habe immer lauten Streit gegeben. Tobias habe davon viel mitbekommen. Sie habe Schuldgefühle deshalb.
Sie kenne ihren Sohn als sehr lebendig, manchmal sei er auch ungeduldig und hektisch. Er sei der Älteste von drei Geschwistern und der Mutter zu Hause, trotz seiner Ungeduld, eine große Stütze. Tobias habe die Trennung nicht gut verkraftet und leide sehr darunter. Zunächst habe es große Auseinandersetzungen über den Verbleib der Kinder gegeben, und einige Monate sei es unklar gewesen, wo Tobias zukünftig leben würde. Tobias selbst habe mal zum Vater, mal zu ihr gewollt. Schließlich habe man sich doch geeinigt: Tobias lebe nun dauerhaft bei ihr. Sie sei darüber sehr froh und habe den Eindruck, auch Tobias sei erleichtert. Andererseits hänge er auch sehr am Vater, mit dem noch keine regelmäßigen Besuchszeiten verabredet seien, sodass Tobias irgendwie »zwischen den Stühlen sitze«.
Weiterhin sind bei Tobias Symptome wie motorische und innere Unruhe, Konzentrationsstörungen und auch Impulsdurchbrüche festgestellt worden, worauf er vor einem halben Jahr die Diagnose ADHS erhielt. Allerdings erscheinen seine Verhaltensweisen im Kontext seiner Gesamtsituation durchaus in einem
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