Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
leben soll. Führen wir uns diese Situation bildlich vor Augen, so sehen wir zwei Erwachsene, die – der eine rechts, der andere links – jeweils an einem Arm ihres Sohnes ziehen.
Dass sich bei Tobias unter diesen Umständen auf emotionaler Ebene eine tiefe Zerrissenheit einstellt, ist aus meiner Sicht nachvollziehbar. Dies könnte die innere Unruhe erklären. Auch die Impulsivität erscheint in diesem Zusammenhang verständlich. Tobias braucht ein Ventil, um den in seinem Inneren aufgebauten Druck ablassen zu können. Und der Druck, den er empfindet, ist groß. Er übernimmt eine unterstützende Rolle für seine Mutter, was ihn überfordert. Kinder sind ihren Eltern gegenüber bedingungslos kooperativ und hochloyal. So bringt die gesamte Situation Tobias in ein Dilemma: Er liebt beide Elternteile und möchte es beiden recht machen. Positioniert er sich zum Vater, kränkt er (in seinem Verständnis) seine Mutter. Stellt er sich zu ihr, kränkt er den Vater. Wie sich Tobias auch entscheidet, die Entscheidung kann aus seiner Sicht nur »falsch« sein.
Die Beziehungsgeflechte von Familien sind vielfältig – keine Situation ist so wie die andere. Deshalb ist eine individuelle Analyse des Kontextes immer von großer Bedeutung, wenn wir die Symptome von Kindern verstehen und deuten wollen. Irgendwo in diesen Beziehungszusammenhängen ist das Gleichgewicht zwischen der Sehnsucht nach Verbundenheit und dem Streben nach Autonomie in eine Schieflage geraten, und immer sind die Verhaltensweisen von Kindern als entsprechende Kompensationshandlungen zu verstehen. Das heißt, Kinder versuchen oft verzweifelt, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen oder zumindest eines dieser beiden Urbedürfnisse zu befriedigen.
Da Tobias dies zu Hause nur unzureichend gelingt, ist ihm das Dazugehören im Klassenverband sehr wichtig. Wird er etwa nicht zum Geburtstag des Schulkameraden eingeladen, gehen seine Gefühle mit ihm durch. Die Verbundenheit ist in seiner Familie infrage gestellt, in seiner zweiten Lebensumwelt Schule soll ihm das nicht passieren. Durch die Gesamtheit der Situation also entstehen dann die Symptome, die wir als auffällig wahrnehmen und die zur Diagnose ADHS führen. Nehmen wir uns die Zeit, auf das spezifische familiäre Beziehungsgeflecht und auf weitere soziale Zusammenhänge und Hintergründe zu schauen, können wir das Verhalten von Kindern viel differenzierter deuten und ihnen sehr wahrscheinlich helfen, ihr Gleichgewicht wiederherzustellen.
Unterstützend in einer solchen Situation kann die Botschaft sein: Wir nehmen dich so an, wie du bist! Der größte Leidensdruck für Kinder entsteht häufig vor allem durch das Gefühl, dass sie in ihrer Umgebung stören, dass sie nicht passen, dass sie den Anforderungen, die wir an sie stellen, nicht genügen. Dies führt meiner Erfahrung nach dazu, dass die Verunsicherung noch größer wird und die Symptome sich eher verstärken. Wenn Kinder permanent die Botschaft empfangen, dass sie eigentlich anders sein sollten, als sie sind (und gerade sein können), dann verstärkt das nur noch einmal mehr ihre innere Unruhe und kann auch zu weiteren Symptomen wie zum Beispiel Aggressivität oder Rückzug führen.
So ist die Botschaft Du störst hier destruktiv und führt zu noch tieferer Verunsicherung. Sinnvoll wäre die Frage: Was brauchst du, damit es dir hier besser geht?
In einem gemeinsamen Gespräch mit Tobias, seinen Eltern und der Lehrerin kann sich Tobias auf Nachfragen sehr klar artikulieren. Er selbst ist es, der uns auf einmal erzählen kann, wie schwer es ihm fällt, sich auf ein Arbeitsblatt zu konzentrieren und alle Umgebungsgeräusche der anderen Kinder auszublenden:
»Ich denke immer, jemand will was von mir, das macht mich ganz verrückt. Dann sag ich mir: Jetzt musst du aber weitermachen. Aber das bringt nix. Das ist fast so wie beim Einschlafen am Abend. Wenn ich muss, dann kann ich erst recht nicht.«
Als Möglichkeit, trotzdem zur Ruhe zu kommen, schlägt Tobias selbst vor, Ohrstöpsel mit in die Schule zu nehmen, die er bei Bedarf nutzen kann, um die Geräuschkulisse, auf die er besonders sensibel reagiert, zu reduzieren.
Tobias befindet sich in einer besonderen Situation, die grundsätzlich nicht zu ändern ist. Seine Eltern werden voraussichtlich nicht wieder zusammenkommen. Es bleibt nur, die Situation so zu nehmen, wie sie ist, und mit ihr möglichst gut umzugehen. Tobias befindet sich in einer Art dauerhaftem Ausnahmezustand. Das führt bei ihm
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